Maschinelle Analyse narrativer Muster: Wie Männer und Frauen vom “Ersten Mal” erzählen

Posted on 5th September 2014 in Kollokationen, n-Gramme, Off Topic, Visualisierung

Ich hatte mein erstes Mal -> mein erstes Mal mit # -> nahm mich in den Arm -> fragte er mich ob ich -> wir bei ihm zu Hause -> seine Eltern nicht da waren -> kam er auf mich zu -> mich zu küssen und ich -> legten uns auf sein Bett -> fragte mich was los sei -> noch nie einen Freund gehabt -> zogen wir uns gegenseitig aus -> Wir küssten uns leidenschaftlich und -> Dann zog ich ihm seine -> Er schaute mich an und -> schaute mich an und fragte -> an und fragte ob ich -> mit ihm schlafen wolle und -> Er holte ein Kondom aus -> Dann drang er vorsichtig in -> er vorsichtig in mich ein -> Er fragte mich ob ich -> Als er merkte dass ich -> nahm mich in den Arm -> seit # Jahren zusammen und

Diese Phrasen bleiben von einer Geschichte vom „Ersten Mal“, wenn man von ihr das Vereinzelnde, Individualisierende wegnimmt und nur jene Teile der sprachlichen Gestaltung übrig lässt, die auch in anderen Geschichten zum gleichen Thema häufig vorkommen.

Wenn wir unseren Alltag erzählen, dann bedienen wir uns kulturell geprägter Muster. Diese Narrative sind sozial akzeptierte Interpretationsmuster, die unsere Wahrnehmung und Darstellung von Zusammenhängen überhaupt erst ermöglichen, aber gleichzeitig auch begrenzen. Obwohl sie höchst Persönliches und Individuelles zu codieren vorgeben, folgen auch Narrative vom „Ersten Mal“ kulturell geprägten Mustern, denen man sich mit maschinellen Methoden nähern kann. Zusammen mit Noah Bubenhofer und Nicole Müller habe ich 3376 Geschichten vom „Ersten Mal“ auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin untersucht.

Sämtliche Geschichten wurden auf den Internet-Plattformen rockundliebe.de (2094 Erzählungen), Erstes-Mal.com (385 Erzählungen) und planet-liebe.de (897 Erzählungen) gesammelt. Die Webseiten wurden automatisiert heruntergeladen, die Texte extrahiert, mit Metainformationen (Alter beim Ersten Mal und Geschlecht) versehen, mit Hilfe des TreeTagger lemmatisiert und mit Part-of-speech-Informationen annotiert. Zusätzlich wurden alle Zahlen durch ein Raute-Symbol ersetzt. Insgesamt umfasst das Korpus 1.886.588 laufende Wortformen. Im Hinblick auf die Dimension Geschlecht ist das Korpus ungleich verteilt: rund 73% der Geschichten stammen von Frauen, nur rund 27% von Männern. Geschichten von Frauen waren mit durchschnittlich 567.9 Wörtern um rund 33 Wörter länger als die von Männern (534.5). Das Durchschnittsalter beim Ersten Mal, wie es von den Autorinnen und Autoren angegeben wurde, lag bei Frauen bei 15.8, bei Männern bei 16.8 Jahren.

Als Analysekategorien dienten uns die Distribution und Verkettung von n-Grammen. Die folgende Tabelle zeigt einen Vergleich der für das jeweilige Korpus typischsten n-Gramme:


Männer-Korpus Frauen-Korpus
llr n-gram f(1) f(2) llr n-gram f(1) f(2)
145,33 fragte sie mich ob ich 0 54 80,84 drang er in mich ein 134 0
88,81 fragte ich sie ob sie 0 33 77,82 ob ich mit ihm schlafen 129 0
75,36 drang ich in sie ein 0 28 68,97 fragte er mich ob ich 167 5
67,28 Ich fragte sie ob sie 0 25 60,93 in mich ein Es tat 101 0
64,59 drang langsam in sie ein 0 24 60,93 legte er sich auf mich 101 0
64,59 setzte sie sich auf mich 0 24 47,66 legte sich auf mich und 79 0
64,59 und zog es mir ueber 0 24 47,66 und drang in mich ein 79 0
61,9 setzte sich auf mich und 0 23 45,85 nahm mich in den Arm 76 0
59,21 sie sich auf mich und 0 22 44,64 und legte sich auf mich 74 0
56,52 ob ich mit ihr schlafen 0 21 44,04 fing er an mich zu 73 0
53,83 Sie fragte mich ob ich 0 20 43,43 er sich auf mich und 72 0
53,83 in sie ein Es war 0 20 42,83 in mich ein Es war 71 0
53,83 mir ein Kondom ueber und 0 20 41,81 Er fragte mich ob ich 123 6
53,83 und ich fragte sie ob 0 20 41,02 und zog es sich ueber 68 0
51,13 fluesterte sie mir ins Ohr 0 19 40,42 ihn in mir zu spueren 67 0
51,13 ich fragte sie ob sie 0 19 40,42 Er legte sich auf mich 67 0
48,44 an mir einen zu blasen 0 18 38 er fragte mich ob ich 63 0
48,44 ich drang in sie ein 0 18 38 mich ob ich mit ihm 63 0
48,44 legte sich auf den Ruecken 0 18 35,59 fragte mich ob ich es 59 0
48,44 mir das Kondom ueber und 0 18 34,38 Ich war mit meinem Freund 57 0


Aus diesen Listen wird unter anderem erkennbar, dass die verbale Handlung des Fragens, oder präziser: des Einholens von Einverständnis, offenbar häufig Bestandteil von Erstes-Mal-Erzählungen sind. Ebenso zeigen sich einige wenige geschlechtsspezifische Unterschiede: etwa die Referenz auf die Dauer der Beziehung („Ich war mit meinem Freund“).

Als eine erste Annäherung an die narrative Struktur haben wir die typischen Positionen von n-Grammen in den Texten bestimmt. Hierfür haben wir alle Texte in mehrere jeweils gleich große Teile geteilt und dann untersucht, in welchen Teilen der Erzählungen die n-Gramme mit welcher Frequenz vorkommen. Die folgenden Abbildungen zeigen die Distribution einiger n-Gramme, deren Positionierung im Text geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist. Dies sind beispielsweise n-Gramme, die sexuelle Erfahrung und Beziehungsstatus betreffen:



Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte)

Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte)



Während das n-Gramm „für uns beide das erste“ von Frauen im ersten und vorletzten Abschnitt am häufigsten gebraucht wird, erwähnen Männer die Tatsache, dass es für beide das Erste Mal war, erst am Ende ihrer Erzählungen. Auch das n-Gramm „schon # Monate zusammen und“ wird von Frauen dominant in den ersten Teilen ihrer Geschichten verwendet, Männer hingegen benutzen es am Ende. Eine Kontextanalyse zeigt allerdings, dass bei Verwendung des n-Gramms am Ende einer Erzählung der Geschlechtsakt der Auftakt der Beziehung war, die ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart zum Zeitpunkt des Schreibens hat; die Verwendung des n-Gramms zu Beginn einer Erzählung stellt die Dauer der bereits bestehenden Beziehungen dar.

Größere Differenzen in der Distribution zeigen sich auch bei n-Grammen, die auf Schlüsselhandlungen im Kerngeschehen verweisen.



Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte).

Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte).



So sind die n-Gramme „uns in die Augen und“ und „gab mir einen Kuss und“ je gegensätzlich verteilt. Während in den Erzählungen der Frauen der Kuss am Anfang jener Abschnitte zu finden ist, die sich mit sexuellen Handlungen befassen, berichten Männer hier vorwiegend von Blicken in die Augen; Männer berichten, am Ende der sexuellen Aktivitätsphase geküsst zu werden, Frauen erzählen hier dagegen vom Austausch von Blicken. Dies könnte man so deuten, dass für Frauen mit dem Vollzug des Geschlechtsaktes eine Intensivierung der Beziehung einhergeht, die für den Mann durch die Gabe des Einverständnisses zum Geschlechtsakt durch den tiefen Blick bereits erreicht ist und sich dann im Akt manifestiert. Ein weiterer Aspekt könnte sein, dass Männer narratologisch versichern wollen, dass Einverständnis vorgelegen hat, Frauen dagegen, dass zwischen den Partner emotionale Nähe herrschte. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich aufgrund kultureller Stereotype geschlechtsspezifische Ängste mit dem „Ersten Mal“ verbinden. In diesen Kontext passen auch die Positionsdifferenzen des n-Gramms „küssten uns die ganze Zeit“. Während das fortwährende Küssen in den Erzählungen der Männer Teil von „Vor-“ bzw. „Nachspiel“ zu sein scheint, schildern Frauen ihr Erstes Mal so, dass das Küssen Bestandteil aller Phasen des Kerngeschehens sein kann.

Unser Verfahren zur Rekonstruktion narrativer Muster auf der Makroebene kombiniert typische Musterpositionen mit n-Gramm-Verkettungen (d.h. kookkurierenden n-Grammen) und visualisiert sie als hierarchischen Graphen. Der folgende Graph (hier als PDF zum Vergrößern), der Tetragrammverkettungen in den Geschichten von Frauen illustriert, bildet die Abfolge von Mustern in der vertikalen Dimension (von oben nach unten) ab. Mehrere voneinander unabhängige narrative Muster im gleichen Abschnitt, das heißt an ähnlichen Erzählpositionen, werden nebeneinander dargestellt. In diesem Graphen sind Bereiche von geringer phraseologischer Durchdringung und Verdichtungsbereiche sichtbar.



Narrationsgraph für die Erzählungen von Frauen

Narrationsgraph für die Erzählungen von Frauen



Muster in 1 referieren auf das Alter der Hauptpersonen der Erzählung:

Mein erstes Mal hatte – ich mit meinem Freund – hatte ich mit # – erstes Mal mit # – Bei meinem ersten Mal – ersten Mal war ich – Freund und ich waren – Ich war damals # – Ich war # und – # und er war – älter als ich und – ist # Jahre älter

Muster in 2 referieren auf die Dauer der Beziehung:

# Monate mit meinem – Monate mit meinem Freund – # Wochen mit meinem – mit mei-nem Freund zusammen – # Monate mit ihm – Monate mit ihm zusammen

Muster in 3 referieren auf die Frage des Mannes nach dem Einverständnis:

schaute mir tief in die – schaute mir lange in die – in die Augen und – fragte mich ob ich – Er fragte mich ob – mit ihm schlafen – ich es wirklich will – ich es wirklich wollte

Muster in 4 referieren auf das sexuelle Geschehen, in dem vor allem der Mann aktiv ist:

Er holte ein Kondom – Kondom aus seiner Hosentasche – aus seiner Tasche – Kondom aus seinem Nachttisch – holte ein Kondom raus – und streifte es sich – zog es sich über – sich über und drang – ganz vorsichtig in mich – langsam und vorsichtig in – langsam in mich ein – drang in mich ein – in mich ein Es – Es tat überhaupt nicht – tat überhaupt nicht weh

Muster in 5 referieren auf den gegenwärtigen Beziehungsstatus:

Und wir sind immer – immer noch zusammen und – immer noch mit ihm – noch mit ihm zusammen – Schatz ich liebe dich – liebe dich über alles

Die Umrisse der typischen Erzählung vom Ersten Mal aus der Sicht von Frauen werden anhand dieses Verfahrens gut sichtbar. Alternative Erzählstränge, die sich teilweise paral-lel zu den grau hinterlegten Teilen befinden, beziehen sich auf die Aspekte Schmerz („erst tat es ein“, „ein bisschen weh aber“, „dann war es einfach“, „es einfach nur noch“), praktische Unerfahrenheit („versuchte in mich einzudringen“) und die Evaluation („Es war ein wunderschönes“, „Es war ein unbeschreibliches“, „war ein unbeschreibliches Gefühl“, „Ich hätte nie gedacht“).

Aus dem folgenden Narrationsgraph (hier als PDF zum Vergrößern), der die Muster aus männlicher Perspektive verfasster Geschichten visualisiert, will ich nur zwei Auffälligkeiten aufgreifen.



Narrationsgraph der Geschichten von Männern

Narrationsgraph für die Erzählungen von Männern



Zum einen sind dies jene sprachlichen Muster im mit 1 bezeichneten Bereich, die auf die Einholung des Einverständnisses zum Geschlechtsakt verweisen. Hier ist es so, dass die Frage von männlicher wie weiblicher Seite kommen kann („fragte sie mich ob“, „ich fragte sie ob“). Zum anderen findet sich im mit 2 bezeichneten Bereich (siehe die nächste Abbildung) eine auffällige Verbindung mehrerer n-Gramme mit der Mehrworteinheit „Sie meinte ich solle“.



Ausschnitt aus dem Narrationsgraphen der Männer

Ausschnitt aus dem Narrationsgraphen der Männer



Die Analysen zeigen, dass Geschichten vom Ersten Mal von Männern und Frauen recht ähnlich erzählt werden und zwar nicht nur im Hinblick auf das sexuelle Geschehen, sondern auch im Hinblick auf die verbalen Handlungen, die ihm vorausgehen und es begleiten. Zentraler Bestandteil typischer Erzählungen beider Geschlechter ist die verbale Verständigung über die Bereitschaft zum Geschlechtsakt und die explizite Gabe des Einverständnisses durch die Frau. Das von der Paarsoziologie als Schwellen-Wendepunkt bezeichnete Erste Mal wird also als eine durch Einverständnis der Frau legitimierte Handlungsfolge erzählt, in der der Mann mehr Handlungsmacht hat als die Frau.

Die Ergebnisse der Analyse haben wir in folgendem Artikel zusammengefasst, den es auch als Preprint gibt:

Bubenhofer, Noah / Nicole Müller / Joachim Scharloth (2014): Narrative Muster und Diskursanalyse: Ein datengeleiteter Ansatz. In: Zeitschrift für Semiotik. Band 35, Heft 3-4 (2013), S. 419-444.


comments: Kommentare deaktiviert für Maschinelle Analyse narrativer Muster: Wie Männer und Frauen vom “Ersten Mal” erzählen tags: , , , , , , , , , , ,

30C3 Nachlese, Teil 2

Auf vielfachen Wunsch hier die gif-Grafik, die ich zur Illustration der Hoffnung einiger Aktivisten erstellt habe, die NSA suche lediglich nach Keywords.


Wie die NSA nicht unsere E-Mails liest

Wie die NSA nicht unsere E-Mails liest (CC0 1.0 Universell, Font by Bolt)

In der letzten Sendung von Breitband auf DeutschlandradioKultur gab es einen schönen Beitrag von Marcus Richter zur Zukunft der Überwachung, der auf dem Kongress entstanden ist und in dem ich auch was sagen durfte.

Und dann habe ich — wie beinahe alle Vortragenden — ein Interview für dctp.tv gegeben, bei dem zumindest die erste Hälfte von meiner Seite komplett misslungen ist. Der zweite Teil enthält aber ein paar Punkte, die ich im Talk nicht so deutlich formuliert habe:




comments: Kommentare deaktiviert für 30C3 Nachlese, Teil 2 tags: , , , , , ,

30C3 Nachlese

Der 30. Chaos Communication Congress war ein buntes Treffen von Makern, Netzaktivisten, Old-style-Hackern, DIYern und IT-Sicherheitsspezialexperten, das ganz im Zeichen der Snowden-Leaks stand. Auch wenn Zynismus, Wut und Trotz die gängigen Modi im Umgang mit der Totalüberwachung digitaler Kommunikation sind, überwog in den meisten Vorträgen doch der analytische Blick auf technische, politische und soziokulturelle Folgen der systematischen Grundrechtsverletzung durch staatliche Akteure.

30c3

Trotz der großen Vielfalt waren Kontroversen kaum sichtbar. Die Snowden-Enthüllungen haben es schwer gemacht, Datenschutz für gestrig zu erklären und die Abschaffung der Privatsphäre gut zu finden. Die Community wird nicht nur über einen computerzentrierten Lebensstil zusammengehalten. Sie ist sich einig in der Forderung nach Einhaltung von Grundrechten, im Kampf für ein Recht auf Anonymität, um transparente staatliche Institutionen und ein freies Netz. Und die Community weiß, was zu tun ist: offene technische Lösungen für möglichst spurenarme und sichere Kommunikation entwickeln, konstruktiv auf demokratische Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Debatten einwirken und wo das nichts nützt, sich an Protesten zu beteiligen, auch aktionistisch.

Der CCC ist nicht das revolutionäre Subjekt, von dem manche zu träumen scheinen. Er ist das organisatorische Rückgrat eine Community, die meistens still (und leider manchmal auch etwas unkoordiniert), aber beharrlich an ihren Projekten arbeitet. Er bezieht sein öffentliches Gewicht aus der technischen Kompetenz seiner Mitglieder und nicht daraus, dass er meinungsstark auf der Klaviatur der sozialen Medien spielt. Er ist keine straff organisierte NGO und schon gar keine Kaderorganisation. Dieser Einsicht ist es wohl auch zu verdanken, dass Versuche von Interessengruppen, die öffentliche Aufmerksamkeit und das Prestige des CCC für ihre Ziele zu benutzen, in diesem Jahr ausblieben.

Und so sind es auch nicht die Talks mit Glamourfaktor in Saal 1, in denen teilweise mit viel Pathos die Gegenwart und Zukunft des Netzes verhandelt wurde, die diesen Kongress ausgemacht haben, sondern die vielen Assemblies und Workshops, die Lightning Talks und zahlreichen Gespräche in den Lounges. Die meisten Teilnehmer dürften müde, aber mit dem Kopf voller Ideen nach Hause gefahren sein.

Ich habe auch gleich am Anfang einen Vortrag zum Thema „Überwachen und Sprache“ halten dürfen, den man sich hier herunterladen oder hier anschauen kann:

Stefan Schulz hat für die FAZ einen schönen Artikel über meinen Vortrag geschrieben, der vieles klarer formuliert als es mir möglich war. Heise hat dem Thema einen Spin gegegeben, der von mir nicht intendiert ist. Und der Deutschlandfunk geht in seinem Bericht weiter als ich in seiner Interpretation meines Vortrags. Und Al Jazeera hat einen kurzen O-Ton von mir eingeholt:

Einige inhaltliche Klarstellungen zu meinem Vortrag liegen mir am Herzen:

  • Die „Software“, die in meinem Vortrag vorkommt, existiert nicht und ist natürlich rein fiktional.
  • Ich habe nicht gesagt, dass Fefe oder Don Alphonso die radikalsten Blogger im ganzen Land sind. Die präsentierten Berechnungen dienten lediglich dazu, die Methoden zu illustrieren und zu verdeutlichen, dass die Zuschreibung von Kategorien wie „Gefährder/in“ oder „Radikale/r“ auf der Basis von Theorien und Methoden erfolgt, die sich nicht rechtfertigen müssen.
  • Ich analysiere keine Wortwolken, wie der Deutschlandfunk in seinem Bericht über meinen Vortrag erklärte, sondern Kollokationsgraphen im Sinne der visual analytics. Die Metapher der Wortwolke ist in diesem Kontext etwas irreführend.
  • Ich gehöre natürlich auch nicht zum „Schwarzen Block des CCC“, wie ein Mitglied von seniorentreff.de mutmaßt, ich hatte nur einen schwarzen Kapuzenpullover an (aber ansonsten Bluejeans und beige Chucks…).

Und dann war auch noch Promi-Gucken angesagt: Einmal habe ich hinter Andi Müller-Maguhn in der Schlange gestanden, bin neben Fefe die Treppe runtergelaufen und mit Constanze Kurz Aufzug gefahren. Außerdem konnte ich Marcus Richter und Tim Pritlove in Aktion erleben, deren Stimme mir viele Zugfahrten in der Tokyoter Rushhour erträglich gemacht haben. Ein großer Dank an alle Organisatorinnen und Organisatoren und an die Scharen von Engeln, die diesen Kongress möglich gemacht haben! Bis nächstes Jahr!


Kollokationen und Koalitionen: Die semantische Nähe von Parteiprogrammen in korpuslinguistischer Perspektive

Posted on 4th August 2013 in Kollokationen, Semantik

Semantische Nähe von Texten kann man auf unterschiedliche Weisen berechnen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Verwendungsweisen von Schlüsselbegriffen zu vergleichen. Wenn zentrale Begriffe in Texten ähnlich verwendet werden (in korpuslinguistischer Perspektive: ein ähnliches Kollokationsprofil haben), dann sind sich die Texte ähnlich.

Dieses Verfahren habe ich verwendet, um die Nähe zwischen den Wahlprogrammen der Parteien zu berechnen. Vielleicht kann diese als Indiz dafür gelten, ob sich die Parteien als Koalitionspartner eignen oder nicht. Verglichen wurden die Kollokationsprofile von 350 frequenten Wörtern aus unterschiedlichen Politikbereichen. Im Folgenden zunächst die Ergebnisse der für die CDU.

cdu_koalitionen

Die größte semantische Nähe zum Wahlprogramm der CDU hat wenig überraschend das Wahlprogramm der FDP. Besonders ähnlich werden Wörter aus den Bereichen Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Bildung benutzt. Überraschend ist die Nähe des CDU-Wahlprogramms zu dem der Piratenpartei. Diese verdankt sich dem ähnlichen Gebrauch von Schlagwörtern aus dem Bereich der Arbeitsmarktpolitik und dem Bereich Integration / Vielfalt / Beteiligung. Interessant ist zudem, dass aus Sicht des CDU-Wahlprogramms die Nähe zu BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN größer ist als die Nähe zur SPD: Schwarz-grün wäre also in semantischer Perspektive besser als eine große Koalition. Bei der SPD ergibt sich ein anderes Bild:

spd_koalitionen

Neben der großen semantischen Nähe zu den GRÜNEN ist hier bemerkenswert, dass die CDU im Näheranking der zweitbeste Partner für eine Koalition wäre. Eine Neuauflage der sozialliberalen Koalition läge in korpuslinguistischer Perspektive sogar näher als eine Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE — vielleicht wird hier die Handschrift Peer Steinbrücks sichtbar. Große Differenzen zwischen LINKE und SPD finden sich besonders bei Schlagwörtern aus den Bereichen der Arbeitsmarktpolitik, Arbeitnehmerrechte und Bildungspolitik. Von besonderem Interesse ist natürlich auch die semantische Nähe der GRÜNEN zu den anderen Parteien, könnten diese doch je nach Wahlausgang zum Zünglein an der Waage werden.

gruene_koalitionen

Das Wahlprogramm der GRÜNEN zeigt eine klare Affinität zum Wahlprogramm der SPD. Die korpuslinguistische Untersuchung würde den GRÜNEN eher zu einer Linkskoalition raten, denn die semantische Nähe zur Partei DIE LINKE ist deutlich größer als die zur CDU.

Aber der Sprachgebrauch kann sich schnell ändern. Er passt sich den politischen Gegebenheiten an. Und Wahlprogramme sind keine Regierungsprogramme.


comments: Kommentare deaktiviert für Kollokationen und Koalitionen: Die semantische Nähe von Parteiprogrammen in korpuslinguistischer Perspektive tags: , , , , , , , , , , , , ,

Wahlprogramme in korpuslinguistischer Perspektive

Posted on 5th Juli 2013 in Kollokationen, Politik

Für ein Blog, das die Bundestagswahl aus linguistischer Perspektive begleiten soll, habe ich zusammen mit meinem Kollegen Noah Bubenhofer die Wahlprogramme der Parteien aufbereitet.



polittrend_header

Einerseits als um ein Lexem gruppierte Kollokationsgraphen: Hier kann man vergleichen, wie die CDU, SPD, Grüne, Linke, FDP und Piraten zentrale Begriffe verwenden.



polittrend_wahlprogramme

Andererseits als Rhizome: Im Quiz müsst ihr raten, welcher Kollokationsgraph zu welcher Partei gehört. Viel Spaß!


comments: 1 » tags: , , , , , ,

„Experten“ in den Medien: schätzen, prognostizieren, warnen

Posted on 19th April 2013 in Kollokationen, Wortschatz

Liebe Freunde der Sicherheit,

Experten begegnen uns in vielerlei Gestalt in allen Gazetten und auf allen Kanälen. Vom Finanzexperten, der uns treffsicher Auswege aus Finanzkrise weist, über den Sicherheitsexperten, der zuverlässig bei jeder Gelegenheit die Vorratsdatenspeicherung fordert, bis hin zum Spezialexperten in Fefes Blog, der als Kompetenzbombe in jedem Wissensbereich einen Volltreffer landet.

Der Experte ist ein sprachliches Konstrukt, der schon durch den bloßen Akt der Zuschreibung von Expertentum zu dem wird, als der er in den Medien erscheint: zum Experten. Dabei ist das Wort „Experte“ äußerst produktiv. Mit ihm lassen sich Unmengen an Komposita, Wörter wie „US-Hinrichtungsexperte“, „Bundesbahn-Technikexperte“, „SPD-Spielbanken-Experte“, „Humorexperte“, „American-Express-Tarifexperte“ oder Klassiker wie „Allround-Experten“, bilden. Die Journalisten von Spiegel-Print beispielsweise haben seit 1947 rund 6000 unterschiedliche Experten-Typen gekürt.

Der Siegeszug des Experten

Aber seit wann gibt es den Typus des „Experten“ eigentlich in den Medien? Vergleicht man die Frequenzentwicklung des Wortes „Experte“ im gedruckten Spiegel mit der von Bezeichnungen für in akademischen Kontexten tätigen Personen wie „Wissenschaftler / Wissenschaftlerin“, „Forscher / Forscherin“ und „Professor / Professorin“, dann wird offensichtlich, dass die 68er auch am Siegeszug des Expertentums Schuld sind:



Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter "Forscher", "Experte", Wissenschaftler" und "Professor" je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)

Entwicklung der relativen Frequenz der Wörter „Forscher“, „Experte“,
Wissenschaftler“ und „Professor“ und Komposita je 100.000 Wörter im SPIEGEL (print)



Nach 1968 steigt der Gebrauch des Wortes „Experte / Expertin“ und seiner Komposita sprunghaft an und verharrt dann relativ konstant auf hohem Niveau. Gleichzeitig geht der Gebrauch der Bezeichnung „Professorin / Professor“ im SPIEGEL nach 1968 dramatisch zurück, auch im Verhältnis zur Zeit vor der sogenannten Studentenrevolte, die natürlich ausführlich im SPIEGEL verhandelt wurde. Ein Trend übrigens, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Grafik zeigt auch, dass seit den 1980er Jahren die Bezeichnung „Forscher / Forscherin“ im journalistischen Trend liegt. So produktiv im Hinblick auf die Wortbildung wie das Wort „Experte“ ist aber keines der anderen Lemmata:



Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörter "Experte", "Forscher", "Wissenschaftler" und "Professor" gebildet wurden im SPIEGEL (print) von 1947-2010.

Entwicklung der Frequenz der Komposita (Types), die mit den Wörtern
„Experte“, „Forscher“, „Wissenschaftler“ und „Professor“ gebildet wurden
im SPIEGEL (print) von 1947-2010.



Die Grafik zeigt, dass die größten Veränderungen in den Jahren nach 1968 zu beobachten sind. Hier zeigt sich bei allen Bezeichnungen eine Vermehrung der Anzahl der Komposita, die mit ihnen gebildet wurden, was man als Ausdifferenzierung des Wortschatzes deuten kann. Doch nirgendwo war die Ausdifferenzierung so ausgeprägt wie bei Bezeichnungen für Experten. Die 20 am häufigsten im SPIEGEL auftretenden Experten sind:

  • Finanzexperte
  • Wirtschaftsexperte
  • Sicherheitsexperte
  • Militärexperte
  • Rechtsexperte
  • Verkehrsexperte
  • Haushaltsexperte
  • Ostexperte
  • Steuerexperte
  • US-Experte
  • Wehrexperte
  • Sozialexperte
  • Umweltexperte
  • Deutschland-Experte
  • Agrarexperte
  • Bildungsexperte
  • Computerexperte
  • Rüstungsexperte
  • Kunstexperte
  • Währungsexperte

Warum 1968?

Die Jahre um 1968 waren eine Zeit, in der Autoritäten überall in der Gesellschaft in Frage gestellt wurden. Natürlich und besonders auch das akademische „Establishment“. Hinzu kam, dass der epistemologische Konsens wegen der Politisierung der Universitäten aufgekündigt wurde: Teile der Wissenschaften wurden pauschal als „bürgerlich“ verunglimpft. Die Konsequenz war, dass der Konflikt zwischen einer „bürgerlichen“ und einer „marxistischen“ bzw. „kritisch-dialektischen“ Wissenschaftsauffassung für die Öffentlichkeit die weltanschaulich-ideologischen Implikationen wissenschaftlicher Erkenntnisse sichtbar machte und damit die Gültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse relativierte. Der Experte könnte demnach als diskursives Gegengewicht zu vermeintlich „bürgerlichen“ Wissenschaftlern, aber auch als Ergebnis eines allgemeinen Autoritätsverlustes wissenschaftlicher Evidenzkonstruktionen gedeutet werden.

Experten vs. Wissenschaftler

Natürlich werden auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien als „Experten“ bezeichnet. Dennoch zeigen sich klare Unterschiede in dem, welche Tätigkeiten Wissenschaftlern / Professorinnen / Forschern zugeschrieben werden. Im gedruckten SPIEGEL der letzten zehn Jahre zeigen sich beispielsweise folgende Muster:

Kollokationen zu den Lemmata "Forscher", "Experte", "Wissenschaftler", "Professor" im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)

Kollokationen zu den Lemmata „Forscher“, „Experte“, „Wissenschaftler“, „Professor“
im gedruckten SPIEGEL (2000-2010)



Die Tätigkeiten, mit denen Experten üblicherweise assoziiert werden sind andere als bei Personen aus dem akademischen Umfeld. Während letztere „messen“, „untersuchen“, „herausfinden“, „entschlüsseln“, „ergründen“, „entdecken“, „nachweisen“, „entwickeln“ und eben „erforschen“, treten Experten mit den Verben „schätzen“, „prognostizieren“, „warnen“, „fürchten“, „bezweifeln“ oder „empfehlen“. Der Experte kommt also immer dann ins Spiel, wenn Wissen als unsicher dargestellt, bewertet und Orientierung aus ihm abgeleitet werden soll. Die Expertise des Experten liegt also nicht im Bereich der Wissensproduktion oder Wissenssicherung, sondern im Bereich der Interpretation von Wissen und der Formulierung von Meinungen, wie mit diesem Wissen umgegangen werden soll. In Wörterbüchern freilich wird „Experte“ als Sachverständiger, Fachmann oder Kenner definiert. Es ist die Spannung zwischen vermeintlich objektiver Sachkenntnis und interessegeleiteter Meinungsproduktion, die die Bezeichnung „Experte“ in den Augen vieler fragwürdig gemacht hat.


Herzlich grüßt euer Sprachexperte Joachim Scharloth


Das Medienimage der Polizei im SPIEGEL

Posted on 8th Februar 2013 in Inhaltswörter, Kollokationen, Politik, Semantik

Liebe Freunde der Sicherheit,

Anfang der Woche war ich bei einer Polizei-Tagung der Evanglischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Demokratie auf der Straße -‚Gutbürger trifft Gutpolizisten'“ eingeladen, um über das Medienimage der Polizei zu sprechen. Eine interessante Veranstaltung, bei der sich Aktivisten, Polizisten und Wissenschaftlerinnen in ungezwungener Atmosphäre begegnen und austauschen konnten. Bei meinem Vortrag zeigte sich, dass das Image der Polizei in den Medien nicht übereinstimmt mit dem Vertrauen, das ein großer Teil der Deutschen in die Insitution der Polizei hat. Denn in den Medien ist die Polizei der Prügelknabe — und dies in doppelter Hinsicht. Das habe ich versucht, am Beispiel des Spiegel (Print und SPON) zu illustrieren.

Allgemeine Frequenzentwicklung

Auch wenn jüngere Zeitgenossen glauben, die Polizei habe in den letzten Jahren wegen Stuttgart 21 und NSU-Desaster im Fokus der Berichterstattung gestanden, relativiert ein Blick auf die Verteilung der Lemmata „Polizei“, „Polizist“, „Polizeibeamter“ und „Ordnungshäter“ im Printarchiv des SPIEGEL diese Einschätzung.

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL

Verteilung von Bezeichnungen für Polizisten im Print-Archiv des SPIEGEL
Frequenz je 100.000 Wörter; auch bei allen folgenden Grafiken

Im langfristigen Trend geht die Berichterstattung über die Polizei zurück, auf Polizisten wird in etwa gleich häufig Bezug genommen. Auch wenn man sich die Berichterstattung über die Polizei auf Spiegel Online, Politik Inland, anschaut, zeigt sich, dass die Berichterstattung über die Polizei an einzelne Ereignisse gebunden ist und langfristig nicht zugenommen hat.

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Entwicklung der Frequenz der Bezeichnungen von Polizei auf SPON (Politik, Inland)

Interessant ist hier, dass die Berichterstattung über die Polizei nach der Eskalation in Stuttgart (im Graphen gelb markiert) von der Berichterstattung über die Castor-Transporte deutlich in den Schatten gestellt wird.

Wie wichtig die Protestbewegungen um 1968 für die Polizeiberichterstattung waren zeigt die folgende Grafik, die visualisiert, wie viele unterschiedliche Wörter mit dem Lexem „polizist“ pro Jahr im Spiegel gebildet wurden und wie häufig diese Komposita relativ zur Anzahl der Wörter benutzt wurden.

Komposita mit dem lexikalischen Morphem "polizist": Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Komposita mit dem lexikalischen Morphem „polizist“:
Entwicklung von Token (linke Achse) und Types (rechte Achse)

Es zeigt sich, dass die Ereignisse um 1968 die Ursache dafür waren, dass der polizeispezifische Wortschatz in den Medien sich ausdifferenziert hat.

Polizeiliche Mittel

Was wird zum Thema, wenn der SPIEGEL über die Polizei schreibt? Da sind zuallererst einmal polizeiliche Instrumente zur Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen, beispielsweise der Wasserwerfer:

Auch die Berichterstattung über Wasserwerfer hat Konjunktur

Konjunkturen der Berichterstattung über Wasserwerfer

Die Verlaufskurve reflektiert einige Höhepunkte der Protestgeschichte der BRD: die 68er-Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt. Parallel zum Wasserwerfer entdeckte die Presse auch den Polizeiknüppel und den Schlagstock. Erich Duensings geflügeltes Wort vom „Leberwurst-Prinzip — in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken“ als polizeiliche Taktik für die Auflösung der Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 und das Kommando „Knüppel frei“ sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Ein beliebter Gegenstand der Berichterstattung um 1968: der Schlagstock

Die absoluten Maxima um 1968 sind auch ein Indikator dafür, dass Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz damals in dieser Dimension noch neu waren und die Polizei angesichts der Konfrontation mit Gewalt und Gegengewalt erst mit ihrer Aufrüstung begann. Eine Aufrüstung, die Ende der 1990er auch zur Aufnahme von Pfefferspray in das Repertoire der Einsatzmittel führte.

Der Einsatz von Pfefferspray wird zum Thema

Der Einsatz von Pfefferspray wird seit Ende der 1990er zum Thema im SPIEGEL


Polizeiliche Mittel

Insgesamt muss man aber festhalten, dass in den letzten Jahre deutlich seltener über Polizeieinsätze mit Schlagstock oder Wasserwerfereinsatz berichtet wurde. Auch Komposita, die Polizei in negativer Weise mit dem Einsatz von Gewalt in Verbindung bringen, nehmen im SPIEGEL tendenziell ab:

Frequenz des Lemmas "Polizeigewalt" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeigewalt“ im Printarchiv des SPIEGEL


Frequenz des Lemmas "Polizeiterror" im Printarchiv des SPIEGEL

Frequenz des Lemmas „Polizeiterror“ im Printarchiv des SPIEGEL

Daraus zu schließen, dass die Polizei nun in positivem Licht dargestellt wird, ist aber falsch. Wenn Spiegel Online über die Polizei berichtet, dann signifikant häufig im Kontakt des Einsatzes von Gewalt, wobei die Polizei sowohl Ziel als auch Quelle der Gewaltausübung ist. Und diese Verbindung bleibt in fast allen Jahrgängen von SPON und Spiegel print seit den 1960er Jahren stabil.

Kollokationen zum Lemma "Polizist" in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Kollokationen zum Lemma „Polizist“ in Spiegel Online (Politik Inland) im Jahr 2011

Trotz ihres guten Images in der Bevölkerung wird die Polizei in Medien wie dem SPIEGEL also stereotyp mit dem Einsatz von Gewalt assoziiert. Umgekehrt gilt dies auch für Demonstranten, über die vorwiegend nur dann berichtet wird, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dass die Repräsentationslogik der Medien eine Legitimationsmöglichkeit für die Eskalation von Gewalt auf Demonstrationen bietet, liegt auf der Hand. Für die Polizei gilt: keine Presse ist gute Presse.


comments: Kommentare deaktiviert für Das Medienimage der Polizei im SPIEGEL tags: , , , , , , , , , ,

Rechtsextremismus und die Mitte der Gesellschaft: Kulturalismus, Populismus und Skandalisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

vom Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen wurde ich eingeladen, auf einer Tagung einen Vortrag zum Thema „Rechtsextremismus und die Mitte Gesellschaft“ aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu halten. Weil ich das Thema relevant finde, habe ich zugesagt. Im Folgenden findet ihr die Analysen, die ich für diesen Vortrag durchgeführt habe.


Grundannahmen

Sprache konstruiert Wirklichkeit. Je nach dem, ob wir einen Gegenstand als „Herdprämie“ oder „Erziehungsgeld“ bezeichnen, heben wir unterschiedliche Aspekte an ihm hervor (Erziehung vs. Frauenpolitik), wecken spezifische Assoziationen (Anerkennung bislang nicht honorierter Leistungen vs. traditionelle Geschlechterrollen), verbinden unterschiedliche Handlungsaufforderungen mit ihm (Zustimmung vs. Ablehnung) und konstruieren ihn so auf je unterschiedliche Weise. Derjenige Akteur, der seinen Sprachgebrauch zur Norm erheben kann, dessen Handeln erscheint als konsistent und legitim. Sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen jedoch nicht über das Prägen von Bezeichnungen alleine, sondern auch im Kontext von längeren Aussagen und Aussagezusammenhängen.



Beispiel: Kollokationen zum Lemma „Ausländer“ in rechtsextremen Foren (Ausschnitt)



Eine Möglichkeit, die spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen zu messen ist die Kollokationsanalyse, also die Analyse, welche Wörter überzufällig häufig miteinander auftreten. Wenn beispielsweise „Nerd“ häufig mit „Außenseiter“, „IQ“, „sozial“ und „gestört“ auftritt, dann verrät dies etwas darüber, wie die kulturelle Entität „Nerd“ konstruiert wird.


Vorgehensweise

Ich habe aus zwei rechtsextremen Internet-Diskussionsforen (Forum Deutscher Netzdienst, ein zwischen 2003 und 2009 von der NPD betriebenes Forum) und dem neonazistischen Thiazi-Forum (2007-2012) ein Korpus mit rund 500 personenspezifischen Teilkorpora erstellt. Das Korpus umfasst rund 25 Millionen Wörter. In diesem Korpus habe ich typische Wortverbindungen berechnet. Nun ist natürlich nicht jede Wortverbindung in diesem Korpus gleich ein Indikator für rechtsextreme Gesinnungen: Nazis schlagen nicht nur Fenster, sondern auch Wege ein und die Verbindung von „Weg“ und „einschlagen“ findet sich in Texten „der Mitte“ genauso wie bei Rechtsextremen. Um ein Kriterium für die Ideologizität der Kollokationen zu haben, habe ich mich dafür entschieden, nur solche als Indikatoren für Rechtsextremismus anzusehen, in denen NPD-Schlagwörter vorkommen. NPD-Schlagwörter habe ich identifiziert, indem ich Pressemitteilungen der NPD mit Pressemitteilungen von CDU und SPD verglichen habe.



Typische Lemmata in den Pressemitteilungen der NPD
im Vergleich zu den Pressemitteilungen von CDU und SPD (Auswahl)



Um beantworten zu können, in welchen Bereichen „die Mitte“ offen ist für rechtsextremes Gedankengut, brauchte ich ein Vergleichskorpus. Weil das Konzept der „Mitte“ nicht klar bestimmbar ist, ist meine Wahl auf ein Online-Diskussionsforum gefallen, das plural im Hinblick auf die dort vertretenen politischen Ansichten ist: politikforum.net. Auch hier habe ich ein Korpus aus 577 personenspezifischen Teilkorpora gebildet, das rund 27 Millionen Wörter umfasst. Das ist zwar nicht Big Data, aber schon recht aussagekräftig (zum Vergleich: Der Zauberberg hat rund 300.000 Wörter). Auch für dieses Korpus habe ich Kollokationen berechnet.



Kollokationen zum Lemma „Sozialsystem“ im Vergleich: NPD-Forum vs. politikforen.net
(Schlagwörter der NPD in zwartem rosa)



Offenheit für rechtsextremes Gedankengut habe ich dann darüber berechnet, wie hoch der Anteil von Kollokatoren ist, die beim gleichen Lemma auch bei der NPD Kollokatoren sind, und wie hoch der Anteil von NPD-Schlagwörtern unter den Kollokatoren ist. Schließlich habe ich die Wörter auf der Basis der Kohärenz der in ihnen vorkommenden Kollokationen thematisch gruppiert und als Graphen visualisiert.


Ergebnisse

In welchen Bereichen gibt es also teilweise Übereinstimmungen in den Denkweisen von Rechtsextremisten und der „Mitte der Gesellschaft“? Zunächst einmal finden sich ein paar übliche Verdächtige: Bei den Themen Ausländer / Migration, Islam und Kriminalität konvergiert der Sprachgebrauch in politikforen.net stark mit dem Sprachgebrauch im NPD-Forum.

Das Thema Ausländer / Migration nimmt von den Schnittmengenthemen den größten Raum ein und wird konstituiert durch die Lemmata Abschiebung, Assimilation, südländisch, Gastrecht, ausweisen, integriert, Ausweisung, Ausländer, Migrationshintergrund, Herkunft, nichtdeutsch, Ethnie, Angehörige, Leitkultur, überschwemmen, Zugehörigkeit, Nichtdeutsche, Bande, geboren, ausnutzen, abschieben, Abstammung, nicht-deutsch, ausländisch, Überfremdung, Multikulti, Migration, Migrant, strömen, Heimat, Identität, ertappt, Minderheit, Integration, Elternteil, Asylant, begrenzen, Investor, aussehend, Sozialhilfeempfänger, Sitte, einwandern, kürzen, Rasse, Urbevölkerung, Masseneinwanderung, Rückkehr, Zuzug, Südland und Mentalität sowie durch die Bezeichnungen für einzelne ethnische Gruppen.

Die typischen Verwendungsweisen des Lemmas „Gastrecht“ in politikforen.net illustriert die Nähe zu rechtsextremem Gedankengut.



Kollokationsgraph zum Lemma „Gastrecht“ in politikforen.net. Braune Knoten
markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Das Thema Kriminalität ist nach dem Thema Ausländer / Mirgation das am breitesten diskutierte Thema und wird konstituiert durch die Lemmata straffällig, kriminell, Gewalttat, Kriminelle, gewalttätig, Delikt, Gewalttäter, Straftat, Straftäter, Kriminalitätsrate, Tatverdächtige, Täter, lebenslang, abstechen, gewaltbereit, Bewährung, abschreckend, Kriminalität, Bestrafung, bestrafen, begangen, liegend, Todesstrafe, Statistik, Verbrecher, wegsperren und Mord. Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net.



Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Ein bemerkenswerter Teilbereich mit großer Konvergenz sind Sexualverbrechen, insbesondere Kindesmissbrauch.



Kollokationsgraph zum Lemma „Vergewaltiger“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Die Themenfelder Ausländer / Migration und Kriminalität werden in politikforen.net ebenso wie in den rechtsextremen Foren häufig miteinander verschränkt, wie der Kollokationsgraph zu „nichtdeutsch“ illustriert.



Kollokationsgraph zum Lemma „nichtdeutsch“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Basis für die Themen Ausländerfeindlichkeit in Verbindung mit Kriminalität und Islamophobie / antimuslimischem Rassismus ist eine Ideologie, die ich als Kulturalismus bezeichnen möchte. In ihr werden Menschen als durch ihre Kultur determinierte Wesen konzeptualisiert und kulturelle Unterschiede als unveränderbar und damit unüberwindlich angesehen. Sichtbar wird Kulturalismus im Kollokationsgraphen zum Lemma „Kultur“:



Kollokationsgraph zum Lemma „Kultur“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



„Kultur“ wird als eine an ein Volk gebundene, von Vermischung bedrohte Lebensweise konzeptualisiert, zu der als Prädikat „grundverschieden“ hinzutreten kann. Der Kulturbegriff hat auch im akademischen Diskurs die Funktion, Homogenität zu konstruieren. Auch in den Diskussionsforen ist die Homogenitätsideologie Bestandteil des Kulturalismus:



Kollokationsgraph zum Lemma „homogen“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Neben den Wörtern „Kultur“ und „homogen“ sind es die folgenden Lemmata, die das Feld des Kulturalismus abstecken und in der rechtsextremer Sprachgebrauch mit dem Sprachgebrauch in politikforum.net konvergiert: Abstammung, Volk, Multikulti, Kulturkreis, Heimat, Identität, Minderheit, bewahren, Sitte, zugehörig, Rasse, Lebensweise, aufgeben, Urbevölkerung, vermischen und Mentalität. Eine genauere Analyse würde zeigen, dass der Kulturalismus die Bedingung für die diskriminierenden Konstruktionen in den Themenfeldern Ausländer / Migration, Kriminalität und Islam ist.

Einher mit dem Kulturalismus geht in rechtsextremen wie pluralistischen Diskussionsforen die Legitimierung von Etabliertenvorrechten. Einheimische genießen Vorrechte gegenüber Zugezogenen, Völker leben in ihrer angestammten Heimat:



Kollokationsgraph zum Lemma „angestammt“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Eine weitere semantische Grundfigur, die rechtsextremes Denken in „der Mitte“ der Gesellschaft anschlussfähig macht, ist die argumentative Inanspruchnahme der (schweigenden) Mehrheit der Gesellschaft.



Kollokationsgraph zum Lemma „Mehrheit“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Zusammen mit einer pauschalen Kritik an der politischen Klasse („korrupt“ und „unfähig“) sind die typischen Ingredienzien des Populismus versammelt.



Kollokationsgraph zum Lemma „Politiker“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Eine letzte semantische Grundfigur, die die Debatten in rechtsextremen wie pluralistischen Foren verbindet, ist die Tendenz zur Skandalisierung, die in beinahe allen genannten Themenbereichen präsent ist.



Kollokationsgraph zum Lemma „asozial“ in politikforen.net (Ausschnitt).
Braune Knoten markieren Schlagwörter der NPD, braune Kanten verweisen darauf,
dass die Wortverbindung auch in rechtsextremen Diskussionsforen auftritt.



Ich konnte hier nicht alle Bereiche und schon gar nicht in der gewünschten Ausführlichkeit vorstellen. Auch erinneringspolitische Themen wie die Wehrmacht und die Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aber auch Sozialpolitisches, antikapitalistisch angehauchte Bankenkritik und die Einschränkung von Grundrechten sind Themen, in denen sich rechtsextreme Positionen mit Mittepositionen berühren. Funfact am Rande: auch die Ansichten über den Verfassungsschutz konvergieren in extremistischen und pluralistischen Diskussionsforen.



Themenfelder und semantische Grundfiguren, die eine hohe Kongruenz
mit rechtsextremen Diskursen aufweisen.



Die obige Grafik ist der Versuch, Themenfelder und semantische Grundfiguren zu ordnen.

Neben den erwartbaren Ergebnissen, dass Ausländerfeindlichkeit, Politikverdrossenheit und Kriminalität Türen sind, durch die rechtsextreme Positionen in weiteren Teilen der Gesellschaft eindringen können, zeigt die Analyse, dass auch semantische Grundfiguren des Populismus, der Skandalisierung und vor allem des Kulturalismus der Nährboden für das Gedeihen rechtsextremen Gedankengutes in „der Mitte der Gesellschaft“ sein können.


Parlando – Monitoring des Sprachgebrauchs im Sächsischen Landtag

Posted on 21st Dezember 2012 in Kollokationen, Stilometrie / stylometry, Visualisierung

Liebe Freunde der Sicherheit,

zusammen mit meinem Kollegen Noah Bubenhofer habe ich ein Monitoring des Sprachgebrauchs im Sächsischen Landtag entwickelt.





Es ist unter http://linguistik.zih.tu-dresden.de/parlament/ benutzbar. Viel Spaß beim Herumklicken!

comments: Kommentare deaktiviert für Parlando – Monitoring des Sprachgebrauchs im Sächsischen Landtag tags: , , , ,

Wozu braucht man und was macht man mit einer Anti-Terror-Datei?

Posted on 11th November 2012 in Extremismus, Kollokationen, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

für Malcolm W. Nance, ehemaliger Angehöriger verschiedener geheimdienstlich arbeitender Sektionen innerhalb der U.S. Navy, Geschäftsführer der Beraterfirma SRSI (Special Readiness Services International, Washington), die sich der Schulung von Personal für den Anti-Terror-Kampf und der nachrichtendienstlichen Lagebeurteilung verschrieben hat, und als Experte für Terrorismusbekämpfung häufiger Gast bei FOX News, ist das größte Problem im Anti-Terror-Kampf das Vorurteil. So höre er immer wieder, dass man Terroristen als Lumpenköpfe („ragheads“) oder Kamel-Jockeys bezeichne. Ein Mitglied des Repräsentantenhauses habe sogar im Hinblick auf Al Kaeda empfohlen, einfach alle Menschen mit einer Windel auf dem Kopf („diapers on their heads“) zu verhaften. In seinem aufschlussreichen „Terrorist Recognition Handbook“ (Handbuch zur Erkennung von Terroristen) gewährt er uns tiefe Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise jener Anti-Terror-Experten, die unsere Sicherheit vorurteilsfrei allein durch den Gebrauch der Vernunft in Kombination mit vielen, vielen Daten gewährleisten, für deren Speicherung und Strukturierung Datenbanken ein notwendiges Übel sind.

Rule #1 Consider Everyone a Potential Terrorist

Die erste und wichtigste Regel der Anti-Terror-Doktrin lautet: Betrachte jeden als potenziellen Terroristen („Consider Everyone a Potential Terrorist“, p. 27). Königsweg bei der Identifizierung von Terroristen ist das auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse gestützte Profiling. Beim Profiling werden Daten ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander verknüpft. Einerseits Grunddaten wie Nationalität, Rasse und Kultur („race and culture“), Alter, biologisches Geschlecht, Muttersprache. Andererseits aber auch solche Daten, die nur durch Beobachtung oder weiter gehende nachrichtendienstliche Mittel erworben werden können; hierzu zählen Kleidungsverhalten, körperlicher Zustand, Waffenbesitz, Besitz verdächtiger Dokumente, klandestines Verhalten, Mitführung hoher Geldbeträge, Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen und das Sprechen in Phrasen, die eine tiefe religiöse oder politische Motivation durchscheinen lassen. Doch dies sind nur Sekundärindikatoren.

Terrorist Attack Preincident Indicators

Im Mittelpunkt der Terrorabwehr stehen sogenannte TAPI (terrorist attack preincident indicators; Anzeichen für die Vorbereitung eines Terrorakts). TAPIs sind Handlungen, die potentielle Terroristen durchführen müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, einen Terroranschlag zu verüben. Was mögliche TAPIs sind, lässt sich nur anhand der Strategie der Terroristen und ihrer möglichen Ziele bestimmen. Nachrichtendienstliche Informationen zur Ideologie, zum Potenzial und der bisherigen Strategie bekannter Terrorgruppen sind hierfür unabdingbar. Gute Ansatzpunkte zur Beobachtung von TAPIs finden sich im Bereich der Logistik der Terroristen (Safe House, Mobilität, Finanzierung) und der Kommunikation der Terrorgruppenmitglieder (beide sind „group-related indicators“), der Auskundschaftung der möglichen Terroriziele („target-related indicators“) und schließlich bei der konkreten Vorbereitung auf den Anschlag (incident-related indicators). Meldungen über TAPIs müssen natürlich auf ihre Relevanz und ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.

Daten zusammenführen und auswerten

Um Terrorakte im Vorfeld zu erkennen und im Anschluss zu verhindern, müssen die folgenden Daten zusammengeführt werden.

  1. Daten der potenziellen Gefährder
  2. Daten zur Schlagkraft und damit zum Schadenspotenzial bekannter terroristischer Gruppen
  3. Daten zur bisherigen Strategie bekannter terroristischer Gruppen und zum Vorgehen bei Anschlägen
  4. Meldungen über TAPIs

Zwar lässt uns Malcolm W. Nance über die genaue Vorgehensweise bei der Analyse dieser Daten im Dunkeln und spricht nur von „heavy intelligence analysis techniques used by U.S. intelligence and law enforcement intelligence divisions including matrix manipulation, visual investigative analysis charting, link analysis, time charting, and program evaluation review technique (PERT)“ (p. 238), unter denen man sich nur sehr wenig vorstellen kann. Eine — sehr simple — Methode nennt er jedoch: die Schlagwortanalyse („Keyword Analysis“). Werden beispielsweise potenzielle Gefährder in nachrichtendienstlichen Berichten mit TAPIs in Verbindung gebracht und lässt etwa die Herkunft der potenziellen Gefährder auf eine Verbindung zu einer bekannten Terrorgruppe schließen, zu deren Taktik die TAPIs passen, dann müssen in den Sicherheitsbehörden die Alarmglocken schrillen.
Auch beim Chatter, dem unbetimmten, aber vielstimmigen Geraune aus nachrichtendienstlichen Quellen, dass in naher Zukunft etwas passieren könne, hilft die Analyse von Schlagwort-Assoziationen. Im anschwellenden Bocksgesang des Terrorismus treten wiederholt ähnliche Schlagwörter auf und bilden Muster, die bei richtiger Gewichtung in ihrer Zusammenschau einen Hinweis auf den bevorstehenden Terrorakt bilden.

„Neue Qualität der Gefährdungsanalyse“

Aus Sicht von Jörg Ziercke, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, ist mit der sogenannten Antiterrordatei „eine neue Qualität der Gefährdungsanalyse“ erreicht. Der Wert der Daten der (nach Angaben Zierckes zurzeit) 16.000 gespeicherten Personen liegt wohl vor allem darin, die Vielzahl potenzieller TAPIs zu filtern und die Bedeutung einzelner TAPIs zu gewichten. Dies mag zwar einerseits ein Gewinn sein. Andererseits birgt es aber auch eine Gefahr. Wer in einem der oben skizzierten Datenbereiche (Gefährder, Schlagkraft, Taktik, TAPIs) Daten ausschließt, läuft Gefahr auf einem Auge blind zu werden. So blind, wie die Sicherheitsbehörden im Fall des NSU. Hier schätzte sie die Schlagkraft und Taktik (2. und 3.) rechtsextremer Kreise krass falsch ein, obwohl das „Terrortrio“ durchaus auf dem Gefährderschirm der Behörden war. Wenn aber eine zu schmale Datenbasis die Gefahr mit sich bringt, Gefahren nicht zu sehen, dann haben die Behörden ein Interesse daran, dass die Antiterrordatei wächst und insbesondere auch Datensätze von Personen erfasst, die nicht auf den ersten Blick ins Gefährderraster passen. Dass dies der Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts erkennt und in seine Entscheidung mit einbezieht, ist zu hoffen.