SPIEGEL Online hat zusammen mit mir und der Forschergruppe semtracks ein Video über die Sprache von Angela Merkel und Peer Steinbrück gemacht. Die ausführliche Analyse, auf der das Video beruht, habe ich auf polittrend.de veröffentlicht.
Korpuslinguistische Perspektiven auf Merkel und Steinbrück
Auf polittrend.de habe ich versucht, die rhetorischen Unterschiede zwischen Merkel und Steinbrück herauszuarbeiten.
Wahlprogramme in korpuslinguistischer Perspektive
Für ein Blog, das die Bundestagswahl aus linguistischer Perspektive begleiten soll, habe ich zusammen mit meinem Kollegen Noah Bubenhofer die Wahlprogramme der Parteien aufbereitet.
Einerseits als um ein Lexem gruppierte Kollokationsgraphen: Hier kann man vergleichen, wie die CDU, SPD, Grüne, Linke, FDP und Piraten zentrale Begriffe verwenden.
Andererseits als Rhizome: Im Quiz müsst ihr raten, welcher Kollokationsgraph zu welcher Partei gehört. Viel Spaß!
Sigmar Gabriel und die rote Linie des digitalten Totalitarismus
Liebe Freunde der Sicherheit,
der Schutz von Persönlichkeitsrechten im Netz, die Integrität des Netzes selbst und die Transparenz der Datenverwendung und der Ausschluss der Indienstnahme von Netzbetreibern durch Geheimdienste sind die roten Linien, die nicht missachtet werden dürfen.
Das schreibt der Inhaber des Tim-Berners-Lee-Ordens für besondere Verdienste um das freie Internet, Datenschutzextremist, Netzversteher und Twitter-Account-Inhaber Sigmar Gabriel in einem blitzgescheiten Gastbeitrag in der FAZ. Darin erklärt er, dass die Idee individueller Freiheitsrechte für ihn Teil der Wertegemeinschaft Europa sei, die es gegen einen übermächtigen Zugriff des Staates (und des Marktes) zu schützen gelte. Klug warnt er vor einem „digitalen Totalitarismus“ verstanden als die Domestizierung von Menschen zu willigen Konsumenten und unkritischen Bürgern durch ihre Vorausberechenbarkeit anhand ihrer Datenspuren.
Potzblitz! Das musste mal gesagt werden! Gut, dass Sigmar Gabriel auch im Bundestag für das freie Netz, für Bürgerrechte im digitalen Raum, für Datensparsamkeit und gegen die Indienstnahme von Netzbetreibern für polizeiliche und geheimdienstliche Zwecke kämpft! Hier ein kleiner Überblick über sein Abstimmungsverhalten zu den Themen Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung und Bestandsdatenauskunft.
Datum | Gesetz | Drucksache | Abstimmungs- verhalten |
Kommentar |
---|---|---|---|---|
09.11.2007 | Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (Vorratsdatenspeicherung) | Drucksache 16/5846 | Zustimmung | Am 2. März 2010 für verfassungswidrig erklärt wegen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 GG |
12.11.2008 | Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt (BKA-Gesetz) | Drucksache 16/10121 und Drucksache 16/10822 | Zustimmung | Teile der SPD-Fraktion lehnten den Gesetzentwurf wegen datenschutzrechtlicher Bedenken ab, darunter auch prominente Fraktionsmitglieder wie Herta Däubler-Gmelin |
18.06.2009 | Gesetz zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (Zugangserschwerungsgesetz – ZugErschwG) | Drucksache 16/12850 | Zustimmung | Seit 29. Dezember 2011 außer Kraft |
21.3.2013 | Gesetz zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft | Drucksache 17/12034 | nicht beteiligt | Zustimmung der SPD-Fraktion |
Das Medienimage der Polizei im SPIEGEL
Liebe Freunde der Sicherheit,
Anfang der Woche war ich bei einer Polizei-Tagung der Evanglischen Akademie Hofgeismar zum Thema „Demokratie auf der Straße -‚Gutbürger trifft Gutpolizisten'“ eingeladen, um über das Medienimage der Polizei zu sprechen. Eine interessante Veranstaltung, bei der sich Aktivisten, Polizisten und Wissenschaftlerinnen in ungezwungener Atmosphäre begegnen und austauschen konnten. Bei meinem Vortrag zeigte sich, dass das Image der Polizei in den Medien nicht übereinstimmt mit dem Vertrauen, das ein großer Teil der Deutschen in die Insitution der Polizei hat. Denn in den Medien ist die Polizei der Prügelknabe — und dies in doppelter Hinsicht. Das habe ich versucht, am Beispiel des Spiegel (Print und SPON) zu illustrieren.
Allgemeine Frequenzentwicklung
Auch wenn jüngere Zeitgenossen glauben, die Polizei habe in den letzten Jahren wegen Stuttgart 21 und NSU-Desaster im Fokus der Berichterstattung gestanden, relativiert ein Blick auf die Verteilung der Lemmata „Polizei“, „Polizist“, „Polizeibeamter“ und „Ordnungshäter“ im Printarchiv des SPIEGEL diese Einschätzung.
Im langfristigen Trend geht die Berichterstattung über die Polizei zurück, auf Polizisten wird in etwa gleich häufig Bezug genommen. Auch wenn man sich die Berichterstattung über die Polizei auf Spiegel Online, Politik Inland, anschaut, zeigt sich, dass die Berichterstattung über die Polizei an einzelne Ereignisse gebunden ist und langfristig nicht zugenommen hat.
Interessant ist hier, dass die Berichterstattung über die Polizei nach der Eskalation in Stuttgart (im Graphen gelb markiert) von der Berichterstattung über die Castor-Transporte deutlich in den Schatten gestellt wird.
Wie wichtig die Protestbewegungen um 1968 für die Polizeiberichterstattung waren zeigt die folgende Grafik, die visualisiert, wie viele unterschiedliche Wörter mit dem Lexem „polizist“ pro Jahr im Spiegel gebildet wurden und wie häufig diese Komposita relativ zur Anzahl der Wörter benutzt wurden.
Es zeigt sich, dass die Ereignisse um 1968 die Ursache dafür waren, dass der polizeispezifische Wortschatz in den Medien sich ausdifferenziert hat.
Polizeiliche Mittel
Was wird zum Thema, wenn der SPIEGEL über die Polizei schreibt? Da sind zuallererst einmal polizeiliche Instrumente zur Manifestation des staatlichen Gewaltmonopols zu nennen, beispielsweise der Wasserwerfer:
Die Verlaufskurve reflektiert einige Höhepunkte der Protestgeschichte der BRD: die 68er-Bewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung und die Proteste gegen die Startbahn West in Frankfurt. Parallel zum Wasserwerfer entdeckte die Presse auch den Polizeiknüppel und den Schlagstock. Erich Duensings geflügeltes Wort vom „Leberwurst-Prinzip — in der Mitte hineinstechen und nach beiden Seiten ausdrücken“ als polizeiliche Taktik für die Auflösung der Demonstration anlässlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 und das Kommando „Knüppel frei“ sind ins kollektive Gedächtnis eingegangen.
Die absoluten Maxima um 1968 sind auch ein Indikator dafür, dass Schlagstock- und Wasserwerfereinsatz damals in dieser Dimension noch neu waren und die Polizei angesichts der Konfrontation mit Gewalt und Gegengewalt erst mit ihrer Aufrüstung begann. Eine Aufrüstung, die Ende der 1990er auch zur Aufnahme von Pfefferspray in das Repertoire der Einsatzmittel führte.
Polizeiliche Mittel
Insgesamt muss man aber festhalten, dass in den letzten Jahre deutlich seltener über Polizeieinsätze mit Schlagstock oder Wasserwerfereinsatz berichtet wurde. Auch Komposita, die Polizei in negativer Weise mit dem Einsatz von Gewalt in Verbindung bringen, nehmen im SPIEGEL tendenziell ab:
Daraus zu schließen, dass die Polizei nun in positivem Licht dargestellt wird, ist aber falsch. Wenn Spiegel Online über die Polizei berichtet, dann signifikant häufig im Kontakt des Einsatzes von Gewalt, wobei die Polizei sowohl Ziel als auch Quelle der Gewaltausübung ist. Und diese Verbindung bleibt in fast allen Jahrgängen von SPON und Spiegel print seit den 1960er Jahren stabil.
Trotz ihres guten Images in der Bevölkerung wird die Polizei in Medien wie dem SPIEGEL also stereotyp mit dem Einsatz von Gewalt assoziiert. Umgekehrt gilt dies auch für Demonstranten, über die vorwiegend nur dann berichtet wird, wenn physische Gewalt im Spiel ist. Dass die Repräsentationslogik der Medien eine Legitimationsmöglichkeit für die Eskalation von Gewalt auf Demonstrationen bietet, liegt auf der Hand. Für die Polizei gilt: keine Presse ist gute Presse.
Rechtsextremismus und die Mitte der Gesellschaft: Kulturalismus, Populismus und Skandalisierung
Liebe Freunde der Sicherheit,
vom Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen wurde ich eingeladen, auf einer Tagung einen Vortrag zum Thema „Rechtsextremismus und die Mitte Gesellschaft“ aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu halten. Weil ich das Thema relevant finde, habe ich zugesagt. Im Folgenden findet ihr die Analysen, die ich für diesen Vortrag durchgeführt habe.
Grundannahmen
Sprache konstruiert Wirklichkeit. Je nach dem, ob wir einen Gegenstand als „Herdprämie“ oder „Erziehungsgeld“ bezeichnen, heben wir unterschiedliche Aspekte an ihm hervor (Erziehung vs. Frauenpolitik), wecken spezifische Assoziationen (Anerkennung bislang nicht honorierter Leistungen vs. traditionelle Geschlechterrollen), verbinden unterschiedliche Handlungsaufforderungen mit ihm (Zustimmung vs. Ablehnung) und konstruieren ihn so auf je unterschiedliche Weise. Derjenige Akteur, der seinen Sprachgebrauch zur Norm erheben kann, dessen Handeln erscheint als konsistent und legitim. Sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen jedoch nicht über das Prägen von Bezeichnungen alleine, sondern auch im Kontext von längeren Aussagen und Aussagezusammenhängen.
Eine Möglichkeit, die spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen zu messen ist die Kollokationsanalyse, also die Analyse, welche Wörter überzufällig häufig miteinander auftreten. Wenn beispielsweise „Nerd“ häufig mit „Außenseiter“, „IQ“, „sozial“ und „gestört“ auftritt, dann verrät dies etwas darüber, wie die kulturelle Entität „Nerd“ konstruiert wird.
Vorgehensweise
Ich habe aus zwei rechtsextremen Internet-Diskussionsforen (Forum Deutscher Netzdienst, ein zwischen 2003 und 2009 von der NPD betriebenes Forum) und dem neonazistischen Thiazi-Forum (2007-2012) ein Korpus mit rund 500 personenspezifischen Teilkorpora erstellt. Das Korpus umfasst rund 25 Millionen Wörter. In diesem Korpus habe ich typische Wortverbindungen berechnet. Nun ist natürlich nicht jede Wortverbindung in diesem Korpus gleich ein Indikator für rechtsextreme Gesinnungen: Nazis schlagen nicht nur Fenster, sondern auch Wege ein und die Verbindung von „Weg“ und „einschlagen“ findet sich in Texten „der Mitte“ genauso wie bei Rechtsextremen. Um ein Kriterium für die Ideologizität der Kollokationen zu haben, habe ich mich dafür entschieden, nur solche als Indikatoren für Rechtsextremismus anzusehen, in denen NPD-Schlagwörter vorkommen. NPD-Schlagwörter habe ich identifiziert, indem ich Pressemitteilungen der NPD mit Pressemitteilungen von CDU und SPD verglichen habe.
Um beantworten zu können, in welchen Bereichen „die Mitte“ offen ist für rechtsextremes Gedankengut, brauchte ich ein Vergleichskorpus. Weil das Konzept der „Mitte“ nicht klar bestimmbar ist, ist meine Wahl auf ein Online-Diskussionsforum gefallen, das plural im Hinblick auf die dort vertretenen politischen Ansichten ist: politikforum.net. Auch hier habe ich ein Korpus aus 577 personenspezifischen Teilkorpora gebildet, das rund 27 Millionen Wörter umfasst. Das ist zwar nicht Big Data, aber schon recht aussagekräftig (zum Vergleich: Der Zauberberg hat rund 300.000 Wörter). Auch für dieses Korpus habe ich Kollokationen berechnet.
Offenheit für rechtsextremes Gedankengut habe ich dann darüber berechnet, wie hoch der Anteil von Kollokatoren ist, die beim gleichen Lemma auch bei der NPD Kollokatoren sind, und wie hoch der Anteil von NPD-Schlagwörtern unter den Kollokatoren ist. Schließlich habe ich die Wörter auf der Basis der Kohärenz der in ihnen vorkommenden Kollokationen thematisch gruppiert und als Graphen visualisiert.
Ergebnisse
In welchen Bereichen gibt es also teilweise Übereinstimmungen in den Denkweisen von Rechtsextremisten und der „Mitte der Gesellschaft“? Zunächst einmal finden sich ein paar übliche Verdächtige: Bei den Themen Ausländer / Migration, Islam und Kriminalität konvergiert der Sprachgebrauch in politikforen.net stark mit dem Sprachgebrauch im NPD-Forum.
Das Thema Ausländer / Migration nimmt von den Schnittmengenthemen den größten Raum ein und wird konstituiert durch die Lemmata Abschiebung, Assimilation, südländisch, Gastrecht, ausweisen, integriert, Ausweisung, Ausländer, Migrationshintergrund, Herkunft, nichtdeutsch, Ethnie, Angehörige, Leitkultur, überschwemmen, Zugehörigkeit, Nichtdeutsche, Bande, geboren, ausnutzen, abschieben, Abstammung, nicht-deutsch, ausländisch, Überfremdung, Multikulti, Migration, Migrant, strömen, Heimat, Identität, ertappt, Minderheit, Integration, Elternteil, Asylant, begrenzen, Investor, aussehend, Sozialhilfeempfänger, Sitte, einwandern, kürzen, Rasse, Urbevölkerung, Masseneinwanderung, Rückkehr, Zuzug, Südland und Mentalität sowie durch die Bezeichnungen für einzelne ethnische Gruppen.
Die typischen Verwendungsweisen des Lemmas „Gastrecht“ in politikforen.net illustriert die Nähe zu rechtsextremem Gedankengut.
Das Thema Kriminalität ist nach dem Thema Ausländer / Mirgation das am breitesten diskutierte Thema und wird konstituiert durch die Lemmata straffällig, kriminell, Gewalttat, Kriminelle, gewalttätig, Delikt, Gewalttäter, Straftat, Straftäter, Kriminalitätsrate, Tatverdächtige, Täter, lebenslang, abstechen, gewaltbereit, Bewährung, abschreckend, Kriminalität, Bestrafung, bestrafen, begangen, liegend, Todesstrafe, Statistik, Verbrecher, wegsperren und Mord. Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net.
Ein bemerkenswerter Teilbereich mit großer Konvergenz sind Sexualverbrechen, insbesondere Kindesmissbrauch.
Die Themenfelder Ausländer / Migration und Kriminalität werden in politikforen.net ebenso wie in den rechtsextremen Foren häufig miteinander verschränkt, wie der Kollokationsgraph zu „nichtdeutsch“ illustriert.
Basis für die Themen Ausländerfeindlichkeit in Verbindung mit Kriminalität und Islamophobie / antimuslimischem Rassismus ist eine Ideologie, die ich als Kulturalismus bezeichnen möchte. In ihr werden Menschen als durch ihre Kultur determinierte Wesen konzeptualisiert und kulturelle Unterschiede als unveränderbar und damit unüberwindlich angesehen. Sichtbar wird Kulturalismus im Kollokationsgraphen zum Lemma „Kultur“:
„Kultur“ wird als eine an ein Volk gebundene, von Vermischung bedrohte Lebensweise konzeptualisiert, zu der als Prädikat „grundverschieden“ hinzutreten kann. Der Kulturbegriff hat auch im akademischen Diskurs die Funktion, Homogenität zu konstruieren. Auch in den Diskussionsforen ist die Homogenitätsideologie Bestandteil des Kulturalismus:
Neben den Wörtern „Kultur“ und „homogen“ sind es die folgenden Lemmata, die das Feld des Kulturalismus abstecken und in der rechtsextremer Sprachgebrauch mit dem Sprachgebrauch in politikforum.net konvergiert: Abstammung, Volk, Multikulti, Kulturkreis, Heimat, Identität, Minderheit, bewahren, Sitte, zugehörig, Rasse, Lebensweise, aufgeben, Urbevölkerung, vermischen und Mentalität. Eine genauere Analyse würde zeigen, dass der Kulturalismus die Bedingung für die diskriminierenden Konstruktionen in den Themenfeldern Ausländer / Migration, Kriminalität und Islam ist.
Einher mit dem Kulturalismus geht in rechtsextremen wie pluralistischen Diskussionsforen die Legitimierung von Etabliertenvorrechten. Einheimische genießen Vorrechte gegenüber Zugezogenen, Völker leben in ihrer angestammten Heimat:
Eine weitere semantische Grundfigur, die rechtsextremes Denken in „der Mitte“ der Gesellschaft anschlussfähig macht, ist die argumentative Inanspruchnahme der (schweigenden) Mehrheit der Gesellschaft.
Zusammen mit einer pauschalen Kritik an der politischen Klasse („korrupt“ und „unfähig“) sind die typischen Ingredienzien des Populismus versammelt.
Eine letzte semantische Grundfigur, die die Debatten in rechtsextremen wie pluralistischen Foren verbindet, ist die Tendenz zur Skandalisierung, die in beinahe allen genannten Themenbereichen präsent ist.
Ich konnte hier nicht alle Bereiche und schon gar nicht in der gewünschten Ausführlichkeit vorstellen. Auch erinneringspolitische Themen wie die Wehrmacht und die Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aber auch Sozialpolitisches, antikapitalistisch angehauchte Bankenkritik und die Einschränkung von Grundrechten sind Themen, in denen sich rechtsextreme Positionen mit Mittepositionen berühren. Funfact am Rande: auch die Ansichten über den Verfassungsschutz konvergieren in extremistischen und pluralistischen Diskussionsforen.
Die obige Grafik ist der Versuch, Themenfelder und semantische Grundfiguren zu ordnen.
Neben den erwartbaren Ergebnissen, dass Ausländerfeindlichkeit, Politikverdrossenheit und Kriminalität Türen sind, durch die rechtsextreme Positionen in weiteren Teilen der Gesellschaft eindringen können, zeigt die Analyse, dass auch semantische Grundfiguren des Populismus, der Skandalisierung und vor allem des Kulturalismus der Nährboden für das Gedeihen rechtsextremen Gedankengutes in „der Mitte der Gesellschaft“ sein können.
DIE KLAU MICH SHOW – dOCUMENTA(13)
Liebe Freunde der Sicherheit,
ich war in den letzten Wochen leider sehr beschäftigt. Unter anderem damit, nach Kassel zur dOCUMENTA(13) zu reisen. Dort durfte ich als Gast an der KLAU MICH SHOW (Radicalism in society meets experiment on TV) teilnehmen, einem Projekt von Dora Garcia. Weitere Gäste waren Rainer Langhans (Kommune I usw.) und Jessica Miriam Zinn (Piratenpartei Berlin), Jan Mech spielte souverän den Talk- und Showmaster.
Es ging um Eigentum und Diebstahl, Hedonismus und Spaßguerilla, Körper und Vergeistigung, Politik und Utopie, 1968 und Piraten. (Über Letztere hatte ich ja schon einmal geblogt.) Das Video ist online:
Der Titel der Show zitiert den Titel des Buches „Klau mich“ der Kommune I. Die Kommune I war eine „Lebensgemeinschaft junger Maoisten“, die 1967 bis 1969 durch medienwirksame Protestinszenierungen und einen ostentativ hedonistischen Lebensstil einen großen Einfluss auf die 68er-Bewegung hatte und viel Aufmerksamkeit provozierte. Eine ihrer Provokationen war ein Flugblatt, in dem sie anlässlich eines Kaufhausbrandes in Brüssel mit etlichen Toten fragte „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ Die Autorinnen und Autoren behaupteten, Anti-Vietnamkriegsaktivisten hätten das Feuer gelegt, um den „saturierten Bürgern“ zu vermitteln, wie sich das Leben in Vietnam anfühlt, um den Krieg vom anderen Ende der Welt in die westlichen Metropolen zu tragen. „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim der Frühstückszeitung zu vergiessen“, heißt es im Flugblatt. „Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidkabine an.“ Die Staatsanwaltschaft sah darin eine Anstiftung zur Brandstiftung und klagte Rainer Langhans und Fritz Teufel an. Es kam zu einem Prozess, den die beiden Kommunarden als Bühne für eine bis dahin nicht dagewesene Anti-Justiz-Show benutzten. Sie spielten virtuos auf der Klaviatur des Antiritualismus und brachten Richter, Staatsanwaltschaft und Zeugen mehrfach zur Verzweiflung. Den Prozessverlauf, die Einvernahmen und die Medienberichte rekonstruierten sie im Buch „Klau mich“.
In der Klau Mich Show am 22. Juni war Rainer Langhans zu Gast. Weil ich mich mit dem Prozess in meinem Buch „1968. Eine Kommunikationsgeschichte“ ausführlich beschäftigt habe und auch sonst viel zu viel über performative Praktiken als Medium des Protests geschrieben habe, wurde ich als Gast eingeladen. Weil Rainer Langhans keine Nostalgie-Show wollte, kam auch Jessica Miriam Zinn von der Piratenpartei Berlin als Gast.
Die Klau Mich Show hat ihre eigenen Rituale entwickelt: die Mitglieder des Theater Chaosium, die am Anfang über die Bühne auf die Plätze für das professionelle Publikum (Chor und Jury) gehen, die reißerische Ansage der Gäste, der kleine Dialog mit der Show-Stewardess Tabu oder die vom Theater Chaosium moderierten Übergänge, das bunte Finale. Beim Sehen von nur einer Folge erzeugen sie Irritationen, wie bei den Studierenden meines Semis, in Serie machen sie den Charme der Show aus. Anders als die Kommune I früher fügen sich in der Klau Mich Show die Gäste in die Rituale.
Ritualkritik und Antiritualismus waren nämlich wichtige Charakteristika der 68er-Bewegung. Durch Rituale nämlich aktualisieren Gemeinschaften ihre Ordnung und versichern sich ihrer Werte. Durch die performative Kraft der Rituale werden Identitäten konstruiert, durch sie erhalten sie den Anschein von Faktizität. Wer also die Gesellschaft und ihre Werte verändern will, der muss ihre Rituale kritisieren, verändern oder durch neue Rituale ersetzen.
Die 1960er Jahre waren die Zeit der Entdeckung des Performativen: in der Kunst wurde mit performativen Praktiken experimentiert, um dem Funktionieren von Zeichenprozessen nachzuspüren. Soziale Bewegungen nutzten Ritualstörungen und Antirituale, um unsichtbare gesellschaftliche Schranken bewusst zu machen und ihre Beseitigung im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. So stilisierte Rudi Dutschke in der deutschen 68er-Bewegung die performative Regelverletzung zum Medium der Selbstaufklärung der Aktivisten und zum Schlüssel ihrer individuellen Veränderung. Aber auch die Wissenschaft theoretisierte nicht nur, sondern nutzte performative Praktien wie Krisenexperimente (Garfinkel), um grundlegende Organisationsprinzipien der menschlichen Interaktion aufzudecken. Auch das Nachspiele von Ritualen wurde in der performativen Ethnologie als Erkenntnisquelle benutzt.
Das erste Thema der Show war dann auch die Theatralität selbst und das vergemeinschaftende Potenzial von Ritualen. Showmaster-Darsteller und Moderator Jan Mech holte das Publikum auf die Bühne und ließ es wie Woof im Musical Hair „We are all one“ rufen. Diese Durchbrechung der vierten Wand der Guckkastenbühne war als ein Re-enactment der Vorgänge am Ende der Hair-Aufführungen in den späten 60ern und frühen 70er Jahren gedacht, wo die Zuschauer auf die Bühne kamen, um mitzutanzen.
Der Gegensatz von Zuschauer und Mitwirkendem, von Bühnenraum und Zuschauerraum, von realer Welt und Spiel wurde aber gleich wieder hergestellt, als die eingeladenen Gäste zu einer Ballade (sinnreich: Seeräuber, Brecht) auf die Bühne kamen. Rainer Langhans wurde zum Star gemacht, der erstmal ein Autogramm geben muss. Deshalb durfte er auch in der Mitte sitzen.
Dann ging es um die Nazivergangenheit und den Generationenkonflikt und um die Frage des Privateigentums, bei der sich Jessica Miriam Zinn im Namen der Piratenpartei wehrte, in einer Tradition mit den 68er gesehen zu werden. Implizit wurde dabei die Frage verhandelt, ob durch die 68er ein Wertewandel hin zu einer Auflösung des Eigentumsbegriffs eingesetzt hat, der die Piratenpartei erst ermöglichte; denn die Piratenpartei bezieht sich positiv auf die urheberrechts-/copyright-kritische Bewegung in Schweden, aus der heraus der BitTorrent-Tracker „The Pirate Bay“ und die schwedische „Piratpartiet“ entstanden sind.
Ob sich die Piratenpartei Deutschlands die 68er, speziell die Kommunebewegung, als Tradition aneignen will, ist letztlich eine politische Frage, denn die Aneignung von Traditionen sind Identitätsakte. Der Anspruch auf Transparenz und die Utopie einer tiefer gehenden Demokratie verbindet beide Bewegungen, wie ich an andere Stelle ausgeführt habe. Gleichzeitig würde sich die Piratenpartei aber wohl dem Verdacht ausgesetzt sehen, offen zu sein für Ideen wie die Abschaffung des Eigentums, die Aufgabe der Privatsphäre und einem Anspruch auf radikale Veränderung jedes Einzelnen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist das Narrativ für die Verbindung von digitalem Aktivismus und 68er-Bewegung längst vorhanden: Der Chaos Computer Club wurde am 12. September 1981 in den Redaktionsräumen der taz gegründet — am Tisch der Kommune I.
Aber zurück zur Klau Mich Show: Theatral wurde es wieder, als der Körper in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wird. Rainer Langhans vertritt seine These von der Vergeistigung der Kommune. Leider kam ich nicht dazu zu sagen, dass ich die Kommune für sehr körperlich halte, nicht nur wegen ihres ostentativen Hedonismus sondern auch wegen der bewussten Inszenierung ihrer Körper als nicht-, ja antifaschistisch. Haben sich die Grenzen des Anstands seit den 60er Jahren nicht nur im Hinblick auf das Eigentum, sondern auch im Hinblick auf den Körper verschoben? Dieser Frage wollte der Showmaster näher kommen, inderm er eine Zuschauerin bat, sich so weit zu entblößen, wie es ihrer Meinung nach Scham und Anstand zuließen. Als Jessica Miriam Zinn den Moderator aufforderte, es der Zuschauerin gleich zu tun, entkleidete auch er sich. Der performative Effekt seiner partiellen Nacktheit war jedoch ein diskursiver Kontrollverlust, der erst nach Wiederanlegen der Hose überwunden wurde.
So lieferte die Show selbst einen Beleg für die (de)konstruktive Kraft von (Anti-)Ritualen, mithin dafür, dass das Durchbrechen von Ritualen das Potenzial hat, Ordnung ins Wanken zu bringen. Die Klau Mich Show changiert wunderbar zwischen Ironie und Ernst, zwischen Anstand und Zumutung, zwischen Gespräch und Performance, zwischen Anspruch und Unterhaltung. Sie ist aber nichts von alledem. Sie ist ein Muss für alle dOCUMENTA-Besucher, die realen wie die virtuellen.
Noch ein paar persönliche Anmerkungen: Den Studierenden der Dokkyo sei noch einmal gesagt, dass ich nicht der Moderator bin und dass das Musical „Hair“ nicht wegen mir ein Leitmotiv der Show war. Ich habe die Performance des Theater Chaosium am Anfang nicht verstanden, fand den Kalauer aber sehr lustig. Einmal habe ich in die Kamera gewinkt, um die Studierenden zu grüßen. Ich habe ziemlich viel auf dem Drehstuhl herumgewackelt. Und ja, ich weiß, das Taschentuch…
Vorher war ich an der TU Dresden, wo ich ab 1.10. eine Professur für Angewandte Linguistik antreten werden, zu einem Vortrag zum Thema „Autorenidentifizierung und Autorschaftsverschleierung. Maschinelle Methoden in der forensischen Linguistik und Möglichkeiten ihrer Überlistung“. Aus diesem Anlasse gibt es demnächst wieder mehr Posts zu technischen Fragen.
Kommunikationsformen und die Utopie von einer anderen Demokratie: Piraten, Grüne und 68er
Wer nachhaltig für seine politischen Ziele mobilisieren will, der braucht Kommunikationsformen, die die Utopie von einer anderen Demokratie glaubhaft symbolisieren.
1968
Als am 15. September 1967 einige hundert junge Menschen versuchten, mit einem Go-in in die Sondersitzung des Abgeordnetenhauses Berlin im Schöneberger Rathaus einzudringen, gaben sie vor, dies nicht zur Durchsetzung vorher abgestimmter politischer Ziele zu tun. Sie skandierten vielmehr „Wir wollen diskutieren“.
„Diskutieren“ war das Fahnenwort der 68er-Bewegung. Diskutieren war gleichbedeutend mit dem Praktizieren von Demokratie. In einem Berliner Flugblatt mit dem Titel „Warum wir demonstrieren — Warum wir diskutieren“ formulierte eine Studentin: „eine demokratie funktioniert nicht durch verbote, sondern durch argumentation und gegenargumentation — auch, wenn diese anregungen von einer minderheit ausgehen.“ Das Politikverständnis, das in der Formel „Demokratie ist Diskussion“ sinnfälligen Ausdruck erhielt, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Demokratische Entscheidungen erhalten ihre Legitimität allein aus der Ratio des besseren Arguments, der sich eine ggf. irrende Mehrheit unterwerfen muss.
Das Go-in in die Sitzung des Abgeordnetenhauses Berlin zeigt zudem, dass die Parlamente in den Augen der 68er nicht der Ort waren, in denen sich das bessere Argument Geltung verschaffen konnte. Die außerparlamentarische und in weiten Teilen auch antiparlamentarische Bewegung setzte vielmehr auf nicht-repräsentative Formen diskursiver Meinungsbildung, etwa das Teach-in. Das Teach-in war eine Form der politischen Massendiskussion, die ohne Beschränkung der Teilnahme und des Rederechts auskommen wollte und in der nicht der Diskussionsleiter, sondern alle Teilnehmer demokratisch über Inhalte und Verfahrensfragen entscheiden sollten.
Diskutieren innerhalb der Bewegung repräsentierte einen hierarchiefreien, egalitären Umgang zwischen den Gesprächspartnern und versprach Erkenntnisgewinn. Diskussionen mit den politischen Gegnern wurden eingefordert, um deren mangelndes Demokrativerständnis zu entlarven. Natürlich waren im einleitenden Beispiel die Berliner Parlamentarier nicht bereit, mit den Protestierenden im Rahmen einer Abgeordnetenhaussitzung zu diskutieren, was die Aktivisten als Beleg ihrer undemokratischen Haltung und der in ihren Augen völlig ungenügendenden Partizipationsmöglichkeiten in der parlamentarischen Demokratie denunzieren konnten. Diskussion forderten die Aktivistinnen und Aktivisten überall dort ein, wo Autorität oder Tradition in ihren Augen größeres Gewicht hatten als das bessere Argument:
- In Vorlesungen und Seminare, in denen Wissen ex cathedra verkündet und nicht diskursiv verhandelt wurde.
- Bei Immatrikulationsfeiern, in denen die Ordinarien die Hochschule feierten, Studenten aber kein Rederecht hatten.
- In Parlamentssitzungen, in denen über, aber nicht mit den Aktivisten debattiert wurde.
- In Gottesdiensten, in denen zwar Frieden gepredigt wurde, die Gräuel des Vietnamkrieges aber unerwähnt blieben.
- In Gerichtsverhandlungen, in denen von Angeklagten unter Androhung von Strafe die totale Unterordnung in die in Gerichten geltenden Verhaltensnormen verlangt wurden.
Selten wurde die Forderung freilich erfüllt und so entstanden kritische Ereignisse, die erheblich zur Mobilisierung und Radikalisierung der Bewegung beitrugen.
Diskutieren im Sinne einer argumentativen und kontroversen Aussprache wurde von den Aktivisten zu einer Praxis erhoben, deren Symbolwert mindestens so groß war wie ihre kommunikative Funktion. Allein der formale Vollzug der Aussprache erfüllte bereits einen Zweck. Diskutieren war damit (auch) ein Ritual, über das sich die Protestbewegung definierte, ein Ritual durch das sie sich von den Etablierten zu unterscheiden glaubte, ein Ritual, das mobilisierte und integrierte.
DIE GRÜNEN
Auch als DIE GRÜNEN 1983 erstmals in den Bundestag einzogen, sorgten sie nicht nur wegen ihrer politischen Inhalte für Aufsehen, sondern auch wegen der Formen ihrer politischen Kommunikation. Zur konstituierenden Sitzung des 10. Bundestages am 29. März 1983 zogen die Abgeordneten — einem Demonstrationszug gleich — vom Bonner Hofgarten ins Regierungsviertel und ließen sich dabei symbolisch von der Basis begleiten. In ihrem Selbstverständnis war die Partei nämlich lediglich ein Ast des mächtigen Baumes der neuen sozialen Bewegungen, der in die Parlamente hineinwuchern sollte. In der Präambel des Bundesprogramms von 1980 heißt es: „Wir halten es für notwendig, die Aktivitäten außerhalb des Parlaments durch die Arbeit in den Kommunal- und Landesparlamenten sowie im Bundestag zu ergänzen. […] Wir werden damit den Bürger- und Basisinitiativen eine weitere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Anliegen und Ideen eröffnen.“
Die Grünen inszenierten sich als „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) und waren ihrem Selbstverständnis nach „die Alternative zu den herkömmlichen Parteien“ (Präambel des Bundesprogramms von 1980). Der Antiparlamentarismus speiste sich aus der Kritik an einer politischen Klasse, die den Interessen von Wirtschaft und Kapital diente, an einem Repräsentationsprinzip, das die Abgeordneten nicht auf den Willen der Volkes verpflichtete, und an einer Professionalisierung der Politik, die die Durchsetzung neuer Ideen verhinderte. Um eine Korrumpierung der eigenen Abgeordneten durch das parlamentarische System zu verhindern, fassten die Grünen im Januar 1983 die sog. Sindelfinger Beschlüsse. Demnach sollten die Abgeordneten ihr Mandat nur zwei Jahre wahrnehmen und dann für ihre Nachfolger Platz machen (Rotationsprinzip), in ihrem Abstimmungsverhalten und in ihrer sonstigen parlamentarischen Tätigkeit an die Beschlüsse der Basis gebunden sein (imperatives Mandat) und nur so viel verdienen wie ein Facharbeiter (Diätenbegrenzung). Daneben beschlossen die Grünen auch eine Trennung von Parteiamt und Mandat, um eine Machtkonzentration auf wenige Personen zu verhindern.
Auch in kommuniktiver Hinsicht setzten die Grünen alles daran, sich als basisdemokratische Partei zu inszenieren. Sie benannten keine Spitzenkandidaten für Wahlen, druckten keine Köpfe auf Wahlplakate, und gaben der Partei auf Bundes- und Länderebene kollektive Führungen aus zunächst je drei Vorsitzenden, die jedoch den Titel „Sprecher“ führten, um zu betonen, dass diese eigentlich keine Macht besäßen, sondern nur die Beschlüsse der Basis nach außen kommunizierten.
Die Grünen verschrieben sich zudem dem Prinzip der Transparenz: Statt Delegiertenversammlungen sollten ausschließlich Mitgliederversammlungen abgehalten werden; die „Mitgliederoffenheit der Sitzungen und Gremien auf allen Ebenen“ ist im Bundesprogramm 1980 festgeschrieben. Zudem sollten die Versammlungen der Grünen nicht nur den Mitgliedern, sondern allen interessierten Menschen offen stehen. Auch die ersten Fraktionssitzungen der Grünen im Bundestag waren öffentlich. Neben zahlreichen Pressevertretern nahmen auch die Nachrücker, Fraktionsmitarbeiter und Vertreter der Basis an den Sitzungen teil, die in der Anfangszeit nicht selten 10 bis 15 Stunden dauerten.
Und sie bedienten sich selbstverständlich weiterhin aktionistischer Formen der Politik. Zur konstitutierenden Sitzung des 10. Bundestages zog einer „eine spindeldürre, nadellose Fichte hinter sich her. Zwei andere rollten eine überdimensionale Weltkugel. Viele trugen Blumen.“ erinnert sich Ludger Vollmer in seinem Buch „DIE GRÜNEN. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei — Eine Bilanz“ (2009) an die Prozession ins Regierungsviertel. Am 15. Juli 1983 setzten sich Petra Kelly und Gert Bastian zusammen mit Wolf Biermann in einen Käfig und ketteten sich an den Zaun des Bundeskanzleramts, um gegen die Auslieferung eines Kurden an die Türkei zu demonstrieren.
Auch die Grünen benutzten also neue Kommunikationsformen und kommunikative Rituale, um ihre Identität als basisdemokratische Anti-Parteien-Partei und als parlamentarischer Ausleger der neuen sozialen Bewegungen zu symbolisieren. Die öffentlichkeitswirksamen Inszenierungen und Provokationen bescherten ihnen Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit.
Den neuen Kommunikationsformen der 68er und der Grünen wohnte ein utopisches Moment inne: sie schienen das Versprechen zu geben, dass eine qualitativ andere Demokratie möglich ist. Eine Demokratie, die dem besseren Argument verpflichtet ist, die allen Menschen Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen ermöglicht und in der die Entscheidungsfindung sich transparent vollzieht.
Und die Piraten
Wirft man einen Blick auf die Anfänge der Grünen, dann erscheint die Piratenpartei nur noch wenig originell. Vorsitzende, die sich als Sprecher verstehen und sich an die Voten der Basis gebunden fühlen, die Verpflichtung der Mandatsträger auf den Willen der Basis, öffentliche Fraktionssitzungen, Transparenzversprechen und öffentlich ausgetragene Streitigkeiten — das alles gab es schon bei den Grünen und sogar radikaler als bei den Piraten heute.
Dennoch verkörpert auch die Piratenpartei die Utopie einer anderen Demokratie. Und zwar weniger durch ihr politisches Programm als vielmehr durch die Formen der innerparteilichen Kommunikation und Entscheidungsfindung. Mit neuen technischen Mitteln wird der Versuch unternommen „Entscheidungen nicht im Rahmen von Vertreterversammlungen zu treffen, sondern einen basisdemokratischen Ansatz auch bei steigenden Mitgliederzahlen umsetzen zu können“, wie es im Piratenwiki zum Schlagwort Liquid Democray heißt. Dabei wird das Prinzip der Basisdemokratie um die Möglichkeit der Delegation der eigenen Stimme für bestimmte Themen oder Politikfelder ergänzt. Auch die Piratenpartei versucht die Utopie einer direkten Demokratie (Möglichkeit der Beteiligung aller Mitglieder an der Entscheidungsfindung) zu verwirklichen und setzt darauf, dass sich in Systemen wie LiquidFeedback Kompetenz (delegated voting) und der besser argumentierende Antrag Geltung verschaffen werden. Die innerparteiliche Kommunikation soll am Ende ein Modell für die Demokratie als Ganze sein.
68er, Grüne und Piraten haben in ihrer jeweiligen Zeit Kommunikationsformen besetzt und zu ihrem Markenzeichen gemacht, die Ausdruck eines alternativen Demokratieverständnisses waren, das gemessen an der Realität der parlamentarischen Demokratie durchaus als utopisch gelten kann. Es ist dieser durch die alternativen Kommunikationsformen symbolisierte Anspruch, der den neuen Bewegungen und Parteien ihr Charisma verlieh und verleiht und den neugegründeten Parteien eine so schnelle Mobilisierung von Wählern ermöglichte.
Freilich: Debatten mit den politischen Gegnern waren in den späten 60er und frühen 70er Jahren selten herrschaftsfreie rationale Diskussionen, sondern hatten häufig Tribunalcharakter. Und die Grünen haben Rotation, imperatives Mandat und öffentliche Fraktionssitzungen schnell wieder abgeschafft. Auch LiquidFeedback ist bei den Piraten längst keine allgegenwärtige Plattform zur politischen Meinungsbildung. Und dennoch: Der Anspruch ist symbolisch formuliert, das Versprechen, alles besser machen zu wollen, ist gegeben. Ob es gehalten wird, das wird die Zukunft zeigen. Das Symbol aber wirkt schon in der Gegenwart.