30C3 Nachlese
Der 30. Chaos Communication Congress war ein buntes Treffen von Makern, Netzaktivisten, Old-style-Hackern, DIYern und IT-Sicherheitsspezialexperten, das ganz im Zeichen der Snowden-Leaks stand. Auch wenn Zynismus, Wut und Trotz die gängigen Modi im Umgang mit der Totalüberwachung digitaler Kommunikation sind, überwog in den meisten Vorträgen doch der analytische Blick auf technische, politische und soziokulturelle Folgen der systematischen Grundrechtsverletzung durch staatliche Akteure.
Trotz der großen Vielfalt waren Kontroversen kaum sichtbar. Die Snowden-Enthüllungen haben es schwer gemacht, Datenschutz für gestrig zu erklären und die Abschaffung der Privatsphäre gut zu finden. Die Community wird nicht nur über einen computerzentrierten Lebensstil zusammengehalten. Sie ist sich einig in der Forderung nach Einhaltung von Grundrechten, im Kampf für ein Recht auf Anonymität, um transparente staatliche Institutionen und ein freies Netz. Und die Community weiß, was zu tun ist: offene technische Lösungen für möglichst spurenarme und sichere Kommunikation entwickeln, konstruktiv auf demokratische Entscheidungsprozesse und gesellschaftliche Debatten einwirken und wo das nichts nützt, sich an Protesten zu beteiligen, auch aktionistisch.
Der CCC ist nicht das revolutionäre Subjekt, von dem manche zu träumen scheinen. Er ist das organisatorische Rückgrat eine Community, die meistens still (und leider manchmal auch etwas unkoordiniert), aber beharrlich an ihren Projekten arbeitet. Er bezieht sein öffentliches Gewicht aus der technischen Kompetenz seiner Mitglieder und nicht daraus, dass er meinungsstark auf der Klaviatur der sozialen Medien spielt. Er ist keine straff organisierte NGO und schon gar keine Kaderorganisation. Dieser Einsicht ist es wohl auch zu verdanken, dass Versuche von Interessengruppen, die öffentliche Aufmerksamkeit und das Prestige des CCC für ihre Ziele zu benutzen, in diesem Jahr ausblieben.
Und so sind es auch nicht die Talks mit Glamourfaktor in Saal 1, in denen teilweise mit viel Pathos die Gegenwart und Zukunft des Netzes verhandelt wurde, die diesen Kongress ausgemacht haben, sondern die vielen Assemblies und Workshops, die Lightning Talks und zahlreichen Gespräche in den Lounges. Die meisten Teilnehmer dürften müde, aber mit dem Kopf voller Ideen nach Hause gefahren sein.
Ich habe auch gleich am Anfang einen Vortrag zum Thema „Überwachen und Sprache“ halten dürfen, den man sich hier herunterladen oder hier anschauen kann:
Stefan Schulz hat für die FAZ einen schönen Artikel über meinen Vortrag geschrieben, der vieles klarer formuliert als es mir möglich war. Heise hat dem Thema einen Spin gegegeben, der von mir nicht intendiert ist. Und der Deutschlandfunk geht in seinem Bericht weiter als ich in seiner Interpretation meines Vortrags. Und Al Jazeera hat einen kurzen O-Ton von mir eingeholt:
Einige inhaltliche Klarstellungen zu meinem Vortrag liegen mir am Herzen:
- Die „Software“, die in meinem Vortrag vorkommt, existiert nicht und ist natürlich rein fiktional.
- Ich habe nicht gesagt, dass Fefe oder Don Alphonso die radikalsten Blogger im ganzen Land sind. Die präsentierten Berechnungen dienten lediglich dazu, die Methoden zu illustrieren und zu verdeutlichen, dass die Zuschreibung von Kategorien wie „Gefährder/in“ oder „Radikale/r“ auf der Basis von Theorien und Methoden erfolgt, die sich nicht rechtfertigen müssen.
- Ich analysiere keine Wortwolken, wie der Deutschlandfunk in seinem Bericht über meinen Vortrag erklärte, sondern Kollokationsgraphen im Sinne der visual analytics. Die Metapher der Wortwolke ist in diesem Kontext etwas irreführend.
- Ich gehöre natürlich auch nicht zum „Schwarzen Block des CCC“, wie ein Mitglied von seniorentreff.de mutmaßt, ich hatte nur einen schwarzen Kapuzenpullover an (aber ansonsten Bluejeans und beige Chucks…).
Und dann war auch noch Promi-Gucken angesagt: Einmal habe ich hinter Andi Müller-Maguhn in der Schlange gestanden, bin neben Fefe die Treppe runtergelaufen und mit Constanze Kurz Aufzug gefahren. Außerdem konnte ich Marcus Richter und Tim Pritlove in Aktion erleben, deren Stimme mir viele Zugfahrten in der Tokyoter Rushhour erträglich gemacht haben. Ein großer Dank an alle Organisatorinnen und Organisatoren und an die Scharen von Engeln, die diesen Kongress möglich gemacht haben! Bis nächstes Jahr!
Rechtsextremismus und die Mitte der Gesellschaft: Kulturalismus, Populismus und Skandalisierung
Liebe Freunde der Sicherheit,
vom Landesamt für Verfassungsschutz in Sachsen wurde ich eingeladen, auf einer Tagung einen Vortrag zum Thema „Rechtsextremismus und die Mitte Gesellschaft“ aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu halten. Weil ich das Thema relevant finde, habe ich zugesagt. Im Folgenden findet ihr die Analysen, die ich für diesen Vortrag durchgeführt habe.
Grundannahmen
Sprache konstruiert Wirklichkeit. Je nach dem, ob wir einen Gegenstand als „Herdprämie“ oder „Erziehungsgeld“ bezeichnen, heben wir unterschiedliche Aspekte an ihm hervor (Erziehung vs. Frauenpolitik), wecken spezifische Assoziationen (Anerkennung bislang nicht honorierter Leistungen vs. traditionelle Geschlechterrollen), verbinden unterschiedliche Handlungsaufforderungen mit ihm (Zustimmung vs. Ablehnung) und konstruieren ihn so auf je unterschiedliche Weise. Derjenige Akteur, der seinen Sprachgebrauch zur Norm erheben kann, dessen Handeln erscheint als konsistent und legitim. Sprachliche Wirklichkeitskonstruktionen erfolgen jedoch nicht über das Prägen von Bezeichnungen alleine, sondern auch im Kontext von längeren Aussagen und Aussagezusammenhängen.
Eine Möglichkeit, die spezifischen Wirklichkeitskonstruktionen zu messen ist die Kollokationsanalyse, also die Analyse, welche Wörter überzufällig häufig miteinander auftreten. Wenn beispielsweise „Nerd“ häufig mit „Außenseiter“, „IQ“, „sozial“ und „gestört“ auftritt, dann verrät dies etwas darüber, wie die kulturelle Entität „Nerd“ konstruiert wird.
Vorgehensweise
Ich habe aus zwei rechtsextremen Internet-Diskussionsforen (Forum Deutscher Netzdienst, ein zwischen 2003 und 2009 von der NPD betriebenes Forum) und dem neonazistischen Thiazi-Forum (2007-2012) ein Korpus mit rund 500 personenspezifischen Teilkorpora erstellt. Das Korpus umfasst rund 25 Millionen Wörter. In diesem Korpus habe ich typische Wortverbindungen berechnet. Nun ist natürlich nicht jede Wortverbindung in diesem Korpus gleich ein Indikator für rechtsextreme Gesinnungen: Nazis schlagen nicht nur Fenster, sondern auch Wege ein und die Verbindung von „Weg“ und „einschlagen“ findet sich in Texten „der Mitte“ genauso wie bei Rechtsextremen. Um ein Kriterium für die Ideologizität der Kollokationen zu haben, habe ich mich dafür entschieden, nur solche als Indikatoren für Rechtsextremismus anzusehen, in denen NPD-Schlagwörter vorkommen. NPD-Schlagwörter habe ich identifiziert, indem ich Pressemitteilungen der NPD mit Pressemitteilungen von CDU und SPD verglichen habe.
Um beantworten zu können, in welchen Bereichen „die Mitte“ offen ist für rechtsextremes Gedankengut, brauchte ich ein Vergleichskorpus. Weil das Konzept der „Mitte“ nicht klar bestimmbar ist, ist meine Wahl auf ein Online-Diskussionsforum gefallen, das plural im Hinblick auf die dort vertretenen politischen Ansichten ist: politikforum.net. Auch hier habe ich ein Korpus aus 577 personenspezifischen Teilkorpora gebildet, das rund 27 Millionen Wörter umfasst. Das ist zwar nicht Big Data, aber schon recht aussagekräftig (zum Vergleich: Der Zauberberg hat rund 300.000 Wörter). Auch für dieses Korpus habe ich Kollokationen berechnet.
Offenheit für rechtsextremes Gedankengut habe ich dann darüber berechnet, wie hoch der Anteil von Kollokatoren ist, die beim gleichen Lemma auch bei der NPD Kollokatoren sind, und wie hoch der Anteil von NPD-Schlagwörtern unter den Kollokatoren ist. Schließlich habe ich die Wörter auf der Basis der Kohärenz der in ihnen vorkommenden Kollokationen thematisch gruppiert und als Graphen visualisiert.
Ergebnisse
In welchen Bereichen gibt es also teilweise Übereinstimmungen in den Denkweisen von Rechtsextremisten und der „Mitte der Gesellschaft“? Zunächst einmal finden sich ein paar übliche Verdächtige: Bei den Themen Ausländer / Migration, Islam und Kriminalität konvergiert der Sprachgebrauch in politikforen.net stark mit dem Sprachgebrauch im NPD-Forum.
Das Thema Ausländer / Migration nimmt von den Schnittmengenthemen den größten Raum ein und wird konstituiert durch die Lemmata Abschiebung, Assimilation, südländisch, Gastrecht, ausweisen, integriert, Ausweisung, Ausländer, Migrationshintergrund, Herkunft, nichtdeutsch, Ethnie, Angehörige, Leitkultur, überschwemmen, Zugehörigkeit, Nichtdeutsche, Bande, geboren, ausnutzen, abschieben, Abstammung, nicht-deutsch, ausländisch, Überfremdung, Multikulti, Migration, Migrant, strömen, Heimat, Identität, ertappt, Minderheit, Integration, Elternteil, Asylant, begrenzen, Investor, aussehend, Sozialhilfeempfänger, Sitte, einwandern, kürzen, Rasse, Urbevölkerung, Masseneinwanderung, Rückkehr, Zuzug, Südland und Mentalität sowie durch die Bezeichnungen für einzelne ethnische Gruppen.
Die typischen Verwendungsweisen des Lemmas „Gastrecht“ in politikforen.net illustriert die Nähe zu rechtsextremem Gedankengut.
Das Thema Kriminalität ist nach dem Thema Ausländer / Mirgation das am breitesten diskutierte Thema und wird konstituiert durch die Lemmata straffällig, kriminell, Gewalttat, Kriminelle, gewalttätig, Delikt, Gewalttäter, Straftat, Straftäter, Kriminalitätsrate, Tatverdächtige, Täter, lebenslang, abstechen, gewaltbereit, Bewährung, abschreckend, Kriminalität, Bestrafung, bestrafen, begangen, liegend, Todesstrafe, Statistik, Verbrecher, wegsperren und Mord. Im Folgenden ein Ausschnitt aus dem Kollokationsgraph zum Lemma „kriminell“ in politikforen.net.
Ein bemerkenswerter Teilbereich mit großer Konvergenz sind Sexualverbrechen, insbesondere Kindesmissbrauch.
Die Themenfelder Ausländer / Migration und Kriminalität werden in politikforen.net ebenso wie in den rechtsextremen Foren häufig miteinander verschränkt, wie der Kollokationsgraph zu „nichtdeutsch“ illustriert.
Basis für die Themen Ausländerfeindlichkeit in Verbindung mit Kriminalität und Islamophobie / antimuslimischem Rassismus ist eine Ideologie, die ich als Kulturalismus bezeichnen möchte. In ihr werden Menschen als durch ihre Kultur determinierte Wesen konzeptualisiert und kulturelle Unterschiede als unveränderbar und damit unüberwindlich angesehen. Sichtbar wird Kulturalismus im Kollokationsgraphen zum Lemma „Kultur“:
„Kultur“ wird als eine an ein Volk gebundene, von Vermischung bedrohte Lebensweise konzeptualisiert, zu der als Prädikat „grundverschieden“ hinzutreten kann. Der Kulturbegriff hat auch im akademischen Diskurs die Funktion, Homogenität zu konstruieren. Auch in den Diskussionsforen ist die Homogenitätsideologie Bestandteil des Kulturalismus:
Neben den Wörtern „Kultur“ und „homogen“ sind es die folgenden Lemmata, die das Feld des Kulturalismus abstecken und in der rechtsextremer Sprachgebrauch mit dem Sprachgebrauch in politikforum.net konvergiert: Abstammung, Volk, Multikulti, Kulturkreis, Heimat, Identität, Minderheit, bewahren, Sitte, zugehörig, Rasse, Lebensweise, aufgeben, Urbevölkerung, vermischen und Mentalität. Eine genauere Analyse würde zeigen, dass der Kulturalismus die Bedingung für die diskriminierenden Konstruktionen in den Themenfeldern Ausländer / Migration, Kriminalität und Islam ist.
Einher mit dem Kulturalismus geht in rechtsextremen wie pluralistischen Diskussionsforen die Legitimierung von Etabliertenvorrechten. Einheimische genießen Vorrechte gegenüber Zugezogenen, Völker leben in ihrer angestammten Heimat:
Eine weitere semantische Grundfigur, die rechtsextremes Denken in „der Mitte“ der Gesellschaft anschlussfähig macht, ist die argumentative Inanspruchnahme der (schweigenden) Mehrheit der Gesellschaft.
Zusammen mit einer pauschalen Kritik an der politischen Klasse („korrupt“ und „unfähig“) sind die typischen Ingredienzien des Populismus versammelt.
Eine letzte semantische Grundfigur, die die Debatten in rechtsextremen wie pluralistischen Foren verbindet, ist die Tendenz zur Skandalisierung, die in beinahe allen genannten Themenbereichen präsent ist.
Ich konnte hier nicht alle Bereiche und schon gar nicht in der gewünschten Ausführlichkeit vorstellen. Auch erinneringspolitische Themen wie die Wehrmacht und die Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, aber auch Sozialpolitisches, antikapitalistisch angehauchte Bankenkritik und die Einschränkung von Grundrechten sind Themen, in denen sich rechtsextreme Positionen mit Mittepositionen berühren. Funfact am Rande: auch die Ansichten über den Verfassungsschutz konvergieren in extremistischen und pluralistischen Diskussionsforen.
Die obige Grafik ist der Versuch, Themenfelder und semantische Grundfiguren zu ordnen.
Neben den erwartbaren Ergebnissen, dass Ausländerfeindlichkeit, Politikverdrossenheit und Kriminalität Türen sind, durch die rechtsextreme Positionen in weiteren Teilen der Gesellschaft eindringen können, zeigt die Analyse, dass auch semantische Grundfiguren des Populismus, der Skandalisierung und vor allem des Kulturalismus der Nährboden für das Gedeihen rechtsextremen Gedankengutes in „der Mitte der Gesellschaft“ sein können.
Wozu braucht man und was macht man mit einer Anti-Terror-Datei?
Liebe Freunde der Sicherheit,
für Malcolm W. Nance, ehemaliger Angehöriger verschiedener geheimdienstlich arbeitender Sektionen innerhalb der U.S. Navy, Geschäftsführer der Beraterfirma SRSI (Special Readiness Services International, Washington), die sich der Schulung von Personal für den Anti-Terror-Kampf und der nachrichtendienstlichen Lagebeurteilung verschrieben hat, und als Experte für Terrorismusbekämpfung häufiger Gast bei FOX News, ist das größte Problem im Anti-Terror-Kampf das Vorurteil. So höre er immer wieder, dass man Terroristen als Lumpenköpfe („ragheads“) oder Kamel-Jockeys bezeichne. Ein Mitglied des Repräsentantenhauses habe sogar im Hinblick auf Al Kaeda empfohlen, einfach alle Menschen mit einer Windel auf dem Kopf („diapers on their heads“) zu verhaften. In seinem aufschlussreichen „Terrorist Recognition Handbook“ (Handbuch zur Erkennung von Terroristen) gewährt er uns tiefe Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise jener Anti-Terror-Experten, die unsere Sicherheit vorurteilsfrei allein durch den Gebrauch der Vernunft in Kombination mit vielen, vielen Daten gewährleisten, für deren Speicherung und Strukturierung Datenbanken ein notwendiges Übel sind.
Rule #1 Consider Everyone a Potential Terrorist
Die erste und wichtigste Regel der Anti-Terror-Doktrin lautet: Betrachte jeden als potenziellen Terroristen („Consider Everyone a Potential Terrorist“, p. 27). Königsweg bei der Identifizierung von Terroristen ist das auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse gestützte Profiling. Beim Profiling werden Daten ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander verknüpft. Einerseits Grunddaten wie Nationalität, Rasse und Kultur („race and culture“), Alter, biologisches Geschlecht, Muttersprache. Andererseits aber auch solche Daten, die nur durch Beobachtung oder weiter gehende nachrichtendienstliche Mittel erworben werden können; hierzu zählen Kleidungsverhalten, körperlicher Zustand, Waffenbesitz, Besitz verdächtiger Dokumente, klandestines Verhalten, Mitführung hoher Geldbeträge, Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen und das Sprechen in Phrasen, die eine tiefe religiöse oder politische Motivation durchscheinen lassen. Doch dies sind nur Sekundärindikatoren.
Terrorist Attack Preincident Indicators
Im Mittelpunkt der Terrorabwehr stehen sogenannte TAPI (terrorist attack preincident indicators; Anzeichen für die Vorbereitung eines Terrorakts). TAPIs sind Handlungen, die potentielle Terroristen durchführen müssen, um überhaupt in der Lage zu sein, einen Terroranschlag zu verüben. Was mögliche TAPIs sind, lässt sich nur anhand der Strategie der Terroristen und ihrer möglichen Ziele bestimmen. Nachrichtendienstliche Informationen zur Ideologie, zum Potenzial und der bisherigen Strategie bekannter Terrorgruppen sind hierfür unabdingbar. Gute Ansatzpunkte zur Beobachtung von TAPIs finden sich im Bereich der Logistik der Terroristen (Safe House, Mobilität, Finanzierung) und der Kommunikation der Terrorgruppenmitglieder (beide sind „group-related indicators“), der Auskundschaftung der möglichen Terroriziele („target-related indicators“) und schließlich bei der konkreten Vorbereitung auf den Anschlag (incident-related indicators). Meldungen über TAPIs müssen natürlich auf ihre Relevanz und ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden.
Daten zusammenführen und auswerten
Um Terrorakte im Vorfeld zu erkennen und im Anschluss zu verhindern, müssen die folgenden Daten zusammengeführt werden.
- Daten der potenziellen Gefährder
- Daten zur Schlagkraft und damit zum Schadenspotenzial bekannter terroristischer Gruppen
- Daten zur bisherigen Strategie bekannter terroristischer Gruppen und zum Vorgehen bei Anschlägen
- Meldungen über TAPIs
Zwar lässt uns Malcolm W. Nance über die genaue Vorgehensweise bei der Analyse dieser Daten im Dunkeln und spricht nur von „heavy intelligence analysis techniques used by U.S. intelligence and law enforcement intelligence divisions including matrix manipulation, visual investigative analysis charting, link analysis, time charting, and program evaluation review technique (PERT)“ (p. 238), unter denen man sich nur sehr wenig vorstellen kann. Eine — sehr simple — Methode nennt er jedoch: die Schlagwortanalyse („Keyword Analysis“). Werden beispielsweise potenzielle Gefährder in nachrichtendienstlichen Berichten mit TAPIs in Verbindung gebracht und lässt etwa die Herkunft der potenziellen Gefährder auf eine Verbindung zu einer bekannten Terrorgruppe schließen, zu deren Taktik die TAPIs passen, dann müssen in den Sicherheitsbehörden die Alarmglocken schrillen.
Auch beim Chatter, dem unbetimmten, aber vielstimmigen Geraune aus nachrichtendienstlichen Quellen, dass in naher Zukunft etwas passieren könne, hilft die Analyse von Schlagwort-Assoziationen. Im anschwellenden Bocksgesang des Terrorismus treten wiederholt ähnliche Schlagwörter auf und bilden Muster, die bei richtiger Gewichtung in ihrer Zusammenschau einen Hinweis auf den bevorstehenden Terrorakt bilden.
„Neue Qualität der Gefährdungsanalyse“
Aus Sicht von Jörg Ziercke, dem Präsidenten des Bundeskriminalamts, ist mit der sogenannten Antiterrordatei „eine neue Qualität der Gefährdungsanalyse“ erreicht. Der Wert der Daten der (nach Angaben Zierckes zurzeit) 16.000 gespeicherten Personen liegt wohl vor allem darin, die Vielzahl potenzieller TAPIs zu filtern und die Bedeutung einzelner TAPIs zu gewichten. Dies mag zwar einerseits ein Gewinn sein. Andererseits birgt es aber auch eine Gefahr. Wer in einem der oben skizzierten Datenbereiche (Gefährder, Schlagkraft, Taktik, TAPIs) Daten ausschließt, läuft Gefahr auf einem Auge blind zu werden. So blind, wie die Sicherheitsbehörden im Fall des NSU. Hier schätzte sie die Schlagkraft und Taktik (2. und 3.) rechtsextremer Kreise krass falsch ein, obwohl das „Terrortrio“ durchaus auf dem Gefährderschirm der Behörden war. Wenn aber eine zu schmale Datenbasis die Gefahr mit sich bringt, Gefahren nicht zu sehen, dann haben die Behörden ein Interesse daran, dass die Antiterrordatei wächst und insbesondere auch Datensätze von Personen erfasst, die nicht auf den ersten Blick ins Gefährderraster passen. Dass dies der Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts erkennt und in seine Entscheidung mit einbezieht, ist zu hoffen.
Erkennung von Ideologien: Metasprachliche Markierungen als Kritik der herrschenden Semantik
Liebe Freunde der Sicherheit,
heute soll es nicht um Autorenerkennung gehen, sondern um die Frage, wie man den ideologischen Gehalt größerer Textmengen bestimmen kann. Illustrieren möchte ich dies an einem Thema, das uns besonders am Herzen liegt: die Treue zu unserer staatlich-politischen Grundordnung.
Systemkritische Bewegungen haben fast immer auch eine sprachkritische Tendenz. Ähnlich wie antipluralistische Systeme neigen sie zur Ausbildung einer eigenen Ideologiesprache, die zwar nicht notwendigerweise ausdrucksseitig (also im Hinblick auf die verwendeten Wörter und Wendungen), aber immer inhaltsseitig vom herrschenden Sprachgebrauch abweicht. Und dies mit gutem Grund: die herrschende Sprache – so die Vorstellung – habe verschleiernden Charakter und diene der herrschenden Klasse zur Gefügigmachung der Bürger, mithin als Herrschaftsinstrument.
Wahres Sprechen erfordert daher eine neue Sprache – so die an ontologisierende Sprachtheorien erinnernde Position. Selten kommen daher sich als revolutionär verstehende Bewegungen ohne kritische Thematisierungen der gegenwärtigen Sprache aus, bisweilen arbeiten sie sogar sprachliche Gegenentwürfe aus.
Letzteres geschieht häufig in Textsorten, die Wörterbüchern ähnlich sind. Beispielsweise findet sich im Netz ein rechtsextremes Elaborat, das eine Liste mit 126 zentralen Vokabeln aus den semantischen Feldern der Staatstheorie, der Philosophie, der Theologie und der „Rassenkunde“ enthält, die im Sinne der Autoren abweichend vom Alltagssprachgebrauch definiert werden. „Diskriminierung“ wird darin beispielsweise wie folgt bestimmt: „Kulturtugend. Abgrenzung (gegeneinander), Unterscheidung des Häßlichen vom Schönen, des Bösen vom Guten, des Falschen vom Wahren, des Schädlichen vom Nützlichen. Die Diskriminierung ist die grundlegende Fähigkeit, die menschliches Handeln auf den Gebieten der Kunst, der Religion, des Wissens, der Wirtschaft und der staatlichen wie bürgerlichen Ordnung der Gemeinwesen erst ermöglicht.“ Die Definition bezieht sich auf die Bedeutung des lateinischen Verbs „discriminare“, in der das Wort auch ins Deutsche entlehnt wurde. Die Bedeutungsdimensionen der Herabsetzung und der Benachteiligung, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Verwendung des Wortes prägen, werden getilgt.
Die Existenz solcher wörterbuchartigen Umdeutungen von Begriffen ist Symptom einer elaborierten und systematischen Kritik der „herrschenden“ Semantik. Häufiger jedoch findet sich in systemkritischen Texten eine eher unsystematische Ad-hoc-Kritik am gängigen Sprachgebrauch, indem die entsprechenden Ausdrücke metasprachlich markiert werden. Damit wird die Ablehnung der traditionellen Verwendungsweise der markierten Vokabeln zum Ausdruck gebracht. Diese Ablehnung kann sich entweder gegen die Wortform selbst oder gegen das Konzept, das dem Ausdruck zugrunde liegt, richten. Ein rechtskonservativer Politiker übt beispielsweise mit der Formulierung „Einwohner mit ‚Migrationshintergrund'“ Kritik an der in Anführungszeichen gesetzten Wortform und drückt damit aus, dass diese nicht Teil seines persönlichen politischen Vokabulars ist. Kritik am Konzept, das hinter einem Ausdruck steht, wird etwa geübt, wenn von der „sogenannten Demokratie“ die Rede ist. Solche Sprachthematisierungen haben eine strategische Funktion. Daneben gibt es natürlich noch weitere Sprachthematisierungen, die ausschließlich erläuternden Charakter besitzen. Hier werden Wörter definiert, erklärt, oder es wird ihr Gebrauch legitimiert.
Sprachkritische Markierungen bieten somit einen Ansatzpunkt für die informatische Operationalisierung von Einstellungen gegenüber der herrschenden Ordnung, insofern sie als Indikatoren der Kritik an zentralen politischen Konzepten und der herrschenden Semantik insgesamt gedeutet werden können.
Um zu überprüfen, ob die linguistische Kategorie der metasprachlichen Markierung als Indikator für Distanz zur herrschenden Semantik und damit als Marker systemkritischer Gesinnung gelten kann, habe ich zusammen mit Kollegen ein paar Proberechnungen an den Pressemitteilungen der Bundesparteien in der Legislaturperiode von 2005-2009 vorgenommen. Im Folgenden findet ihr die Frequenz von metasprachlichen Markierungen je 10.000 Wörtern (SPD und CDU stehen hier deshalb neben einander, weil sie eine Koalition bildeten; PDL-KPF steht für die Kommunistische Plattform innerhalb der Partei DIE LINKE.).
Die Parteien und Gruppierungen an den Rändern des politischen Spektrum weisen eine höhere Frequenz metasprachlicher Markierungen auf als die im Bundestag vertretenen Parteien. Während bei letzteren der Höchstwert bei rund 20 Sprachthematisierungen je 10.000 Wörtern liegt (CDU), liegt er bei den anderen Parteien, die vom Verfassungsschutz überwiegend als extremistisch bezeichnet werden, zwischen rund 33 (MLPD) und 80 (DKP).
Auch eine qualitative Auswertung der metasprachlichen Ausdrücke, die in den Pressemitteilungen auftreten, bestätigt, dass die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums ihre Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit sprachlichen Mitteln explizit machen. Die folgende Abbildung zeigt den Anteil der metasprachlich markierten Ausdrücke zur Bezeichnung von Institutionen beziehungsweise Grundwerten des demokratischen Verfassungsstaates an allen metasprachlicher Markierungen.
Insbesondere bei den rechtsextremen Parteien, aber auch bei der MLPD findet sich demnach ein vergleichsweise hoher Anteil antipluralistisch intendierter metasprachlicher Markierungen. Zwar liegt der Wert bei den Grünen auch vergleichsweise hoch, allerdings ist die Frequenz metasprachlicher Markierungen bei den Grünen insgesamt derart gering, dass die 3,2 % markierter Ausdrücke, die Grundwerte und Institutionen des Verfassungsstaates bezeichnen, nicht ins Gewicht fallen.
Es scheint also, als seien Quantität und Qualität metasprachlich markierter Ausdrücke ein Indikator für eine kritische Haltung gegenüber der herrschenden politischen Ordnung. Allerdings muss ich noch ergänzen: bei Diskussionsforen ist die explorative Kraft metasprachlicher Markierungen viel geringer. Ein weiterer Beleg dafür, wie zentral die Kategorie Textsorte für die automatisierte Sprachanalyse ist.
Ach so, eins noch: klar werden hier Parteien vergleichen und einige gelten dem Verfassungsschutz als links- und andere als rechtsextrem. Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, dass das Vergleichen ein Gleichsetzen ist.
Von Black Panther zu Pink Panther? — Zur Ikonographie des Terrors
Liebe Freunde der Sicherheit,
Die Presse rätselt, warum sich die Terroristen, die sich als Nationalsozialistischer Untergrund bezeichnen, ausgerechnet Paulchen Panther zu ihrem Maskottchen wählten. Bernd Wagner von Exit Deutschland gibt sich im Stern-Interview ratlos, der Zürcher Tagesanzeiger rätselt und klärt darüber auf, dass der rosarote Panther nicht im kriminellen Milieu wurzelt.
Und in der BILD-Zeitung darf Professor Dr. Hajo Funke, Politikwissenschaftler vom Otto-Suhr-Institut in Berlin, erklären: „Das muss kein Zeichen für die Öffentlichkeit sein: In der Nazi-Szene gibt es auch eine innere Propaganda. Möglicherweise hatten Paulchen-Witze in dieser Gruppe einen Kultstatus für Insider.“
Eine Blick in die Geschichte der Terror-Ikonographie legt jedoch eine andere Interpretation nahe: Der Panther wurde beispielsweise von der Black Panther Party, einer sich als revolutionär verstehenden militanten Gruppe innerhalb der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, benutzt.
Er zierte auch den ersten programmatischen Text der RAF „Die Rote Armee aufbauen“ in der Zeitschrift agit 883.
Und sogar Feminstinnen bedienten sich des Panthers zur Artikulation ihrer Bereitschaft zur Militanz.
Der Panther steht also für revolutionäre Gewalt. Dass sich die Terroristen der NSU nicht wie die RAF mit der Black Panther-Bewegung identifizierten ist evident. Der schwarze Panther, in dessen Farbe und geschmeidiger Kraft sich die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung wiedererkennen sollte, passt nicht zu ihren rassistischen Anliegen.
Was liegt für eine Neonazigruppe, deren Ideologie auf rassischem Denken beruht, näher, als statt eines schwarzen Panthers einen rosaroten Panther zum Logo zu wählen, um einen ikonographischen Kontrapunkt zu setzen? Und hätte der Chef der NPD in Zwickau, der Paulchen Panther als Alias bei Facebook benutzte, wirklich auch Fix und Foxi wählen können, wie er SPIEGEL Online sagte?
„Extremismus“ zwischen Deskription und Performanz
Liebe Freunde der Sicherheit,
ich habe mich in der letzten Zeit um die Sicherheit der japanischen Renten verdient gemacht, daher war hier Funkstille. Das soll sich nun aber wieder ändern. Heute ein kleiner Überblick über die Debatte um den Extremismusbegriff. Seine Anwendung bietet in Deutschland die Grundlage dafür, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz Personen oder Gruppen beobachten darf. Während in anderen Ländern vor allem der Verdacht des Terrorismus staatliche Zuwendung beschert, betrachtet man Terrorismus in Deutschland in den meisten Fällen als Sonderfall des Extremismus.
„Extremismus“ als Terminus aus der Verwaltungssprache
„Extrem“ ist ein relationaler Begriff: Seine Bedeutung ergibt sich nur aus der Beziehung zu anderen Positionen. Das „Extreme“ bezeichnet die äußerste Abweichung oder den äußersten Gegensatz zu diesem Anderen. Der Begriff des politischen Extremismus ist ein Begriff, der nicht nur in der Forschung verwendet wird. Er findet Verwendung auch in der Arbeit jener Behörden, die – dem Gründungskonsens der Bundesrepublik folgend – den Schutz der Verfassung durch Sammlung von Informationen über jene zu ihrem Auftrag haben, die aggressiv und planvoll an der Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung arbeiten. Der Begriff des Extremismus ist damit ein Begriff aus der Verwaltungspraxis, ein Begriff mit handlungsorientierender Funktion. Er erhält seine Bedeutung aus der Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts und der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte der Länder. Aber auch die Praxis von Staatsanwaltschaften und Gerichten, der Innenministerien von Bund und Ländern sowie die Aktivitäten der ihnen unterstellten Polizei und vor allem der Verfassungsschutzämter (Neugebauer 2001: 14) tragen dazu bei, dem Begriff seine jeweils aktuelle Bedeutung zu geben. Wann der Verfassungsschutz tätig werden darf, ist in § 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes geregelt, wo es heißt:
(1) Im Sinne dieses Gesetzes sind
a) Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder eines Landes solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen;
b) Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Landes solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, den Bund, Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen;
c) Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.
(§4 Abs. 1 BverfSchG.)
Als Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zählt Absatz 2 die folgenden Verfassungsgrundsätze auf:
a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
c) das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,
d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,
e) die Unabhängigkeit der Gerichte,
f) der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und
g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.
(§4 Abs. 2 BverfSchG.)
Extremistisch im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes sind damit jene Bestrebungen, die auf die Beseitigung oder Einschränkung der Prinzipien von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Gewaltenteilung und Menschenrechten gerichtet sind. Organisationen, deren Ziele als extremistisch eingestuft werden, werden von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet mit dem Ziel, gegebenenfalls gerichtsverwertbare Materialien zu sammeln, die Exekutivmaßnahmen rechtfertigen.
Extremismusbegriff der Politikwissenschaft
Auch in der Politikwissenschaft wird der Extremismusbegriff von einer Schule von Politikwissenschaftlern in Abgrenzung zum Begriff des demokratischen Verfassungsstaates verwendet. So definieren Uwe Backes und Eckhard Jesse (1996: 45):
Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als „repressiv“ gilt (Anarchismus).
Auch wenn die Definition als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Extremismen lediglich die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates nennt, tragen Backes und Jesse doch folgende weitere „strukturelle Gemeinsamkeiten extremistischer Doktrinen“ (Backes/Jesse 1996: 58) zusammen:
(1) Intoleranz gegenüber „abweichenden“ Auffassungen sowie mangelnde Kompromissfähigkeit und -bereitschaft
(2) Pluralismus der Meinungen wird mit dem Hinweis auf die eine „wahre“ Lehre abgelehnt
(3) die absolute Gewissheit, im Recht zu sein, und die Überzeugung von der absoluten Gültigkeit der eigenen Visionen
(4) Missionsbewusstsein
(5) Geheimbündelei
(6) Verschwörungstheorien: Massenmedien sind Instrumente der Meinungsmanipulation, die Parteien sind Spielbälle der Interessenverbände
(7) Fanatismus: Bereitschaft zur gewaltsamen Propagierung und Durchsetzung der erstrebten Ziele
Der von staatlichen Behörden und Teilen der Politikwissenschaft formulierte Extremismusbegriff ist ein normativer. Er ist an den Werten des demokratischen Verfassungsstaates orientiert. Die deontische Dimension des Begriffs beinhaltet, dass der Extremismus etwas ist, das beobachtet und gegen das gegebenenfalls vorgegangen werden sollte. Der Extremismusbegriff ist damit auch ein Ausgrenzungsbegriff, denn er setzt eine Grenze zwischen legaler und illegaler politischer Betätigung.
Kritik am Extremismusbegriff
An diesem Extremismusbegriff wird Kritik geübt, sowohl von politikwissenschaftlicher Seite als auch von politisch Betroffenen. Als Beispiel für letztere sei hier ein Text mit dem Titel „Rechts ist nicht links – Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes“ (Jelpke 2009) der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke von der Partei Die Linke angeführt. Jelpke, der politische Kontakte zu in Deutschland als terroristische Vereinigung verbotenen Gruppierungen vorgehalten werden, wirft den Vertretern des Extremismusansatzes vor, „die inhaltlichen Unterschiede zwischen der radikalen Linken und einer extremen Rechten nivellieren und somit die Linke durch die begriffliche Gleichsetzung mit der extremen Rechten diskreditieren [zu wollen]“. Der Extremismusbegriff solle die politische Mitte unabhängig von den in ihr vertretenen Inhalten legitimieren und alle Abweichungen von dieser Mitte ausgrenzen. Dadurch definiere der Extremismusbegriff einen legalen politischen Raum (die Mitte) und stelle alle abweichenden politischen Vorstellungen unter den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Diese Definition der legitimen Mitte erfolge jedoch nicht inhaltlich, etwa entlang der Grundwerte der Verfassung, sondern rein formal, das heißt gemäß dem Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, zu der nach herrschender Auffassung auch das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik gehöre. Jelpke sieht also im Extremismusbegriff eine antipluralistische Strategie und ein Herrschaftsinstrument der politischen Mitte. Zur Kritik am Extremismusbegriff aus politischer Perspektive kann man auch bei Jennerjahn (2010) und Kausch (2010) nachlesen.
Aus politikwissenschaftlicher Sicht konstatiert Gero Neugebauer (2001, 2010), dass sich keine nennenswerte empirische Forschungslinie, die die Gemeinsamkeiten von Links- und Rechtsextremismus untersucht, gebildet habe. Vielmehr beobachtet er, dass der Extremismusbegriff für Forschung zu rechtsextremen, jedoch praktisch überhaupt nicht für Forschung zu linksextremen Gruppierungen und Denkweisen verwendet werde. Diese Einseitigkeit verdanke sich seiner normativen Fundierung. Zwar räumt auch Neugebauer die Existenz von Gemeinsamkeiten ein, jedoch seien diese lediglich auf der Phänomen- oder Symptom-Ebene zu finden. Inhaltlich seien die Unterschiede zwischen Links- und Rechtsextremismus aber zu groß, als dass eine theoretische Reduzierung auf einen Begriff angemessen sei. Ohne wie Backes und Jesse eine präzise Bestimmung des Demokratiebegriffs vorzunehmen, konstatiert er, dass der Linksextremismus zwar antikapitalistisch, nicht aber antidemokratisch sei, der Rechtsextremismus hingegen stets antidemokratisch. Diese Kritik verweist auf ein tiefer liegendes Problem mit dem Extremismusbegriff: Er referiert auf das Links-Rechts-Schema, das – folgt man Neugebauers Ausführungen weiter – alltagsweltlich zwar eine sinnvolle Vereinfachung komplexer Sachverhalte sein könne, aber für wissenschaftliche Zwecke wegen seiner Unbestimmtheit keinen großen heuristischen Nutzen habe. Daher plädiert Neugebauer dafür, die Eindimensionalität des Extremismusbegriffs durch einen mehrdimensionalen Werteraum zu ersetzen.
Extremismus der Mitte
Schließlich gibt es in der Forschung zum historischen Faschismus noch die These von der Existenz eines Extremismus der Mitte. Lipset (1981) etwa führt den Siegeszug des Faschismus in den 1930er Jahren darauf zurück, dass die politische Mitte mit extremistischem Gedankengut infiziert war. Dass es weiterhin einen Extremismus der Mitte gibt, ist heute ein beliebtes Argument derer, die sich an den vermeintlichen politischen Rändern tummeln, um den Vorwurf des Extremismus von sich zu weisen.
Die deontische Dimension des Extremismusbegriffs
Extremismus ist ein Begriff, der fast ausschließlich zur Bezeichnung kritikwürdiger Sachverhalte, Menschen und Gruppen verwendet wird. Daher ist die Verleihung des Labels „extremistisch“ auch kein rein deskriptiver Akt, sondern hat eine performative Dimension. Interessant ist, was mit Gruppen oder Menschen geschieht, denen extremistisches Denken vorgeworfen wird: Oft radikalisieren sie sich nämlich. Der Extremismusbegriff zieht eine Linie zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft. Sie fühlen sich als Opfer von Ausgrenzung und beginnen mit anderen (vermeintlichen) Opfern dieser Ausgrenzung zu sympathisieren und finden nicht selten in ihnen ihre neuen Verbündeten. Der Staat, der diese Ausgrenzung autorisiert, erscheint noch kritikwürdiger als zuvor. Wer des Extremismus verdächtigt wird, der neigt häufiger dazu, sein wahres Denken zu verschleiern oder gar sich klandestin zu verhalten. So hat der Extremismusbegriff das Potenzial, sich seinen Gegenstand selbst zu schaffen. Aber natürlich wäre es idiotisch, jede Radikalisierung der bloßen Existenz eines Extremismusbegriffs in die Schuhe zu schieben.
Zum Weiterlesen:
- Backes, Uwe (1998): Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- Backes, Uwe / Eckhard Jesse (1996): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Jaschke, Hans-Gerd (2006): Politischer Extremismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Jelpke, Ulla (2009): Rechts ist nicht links – Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes. Online: http://www.ulla-jelpke.de/news_detail.php?newsid=1433 - Jennerjahn, Miro (2010): „Der fächer des Bösen“. Anmerkungen aus politischer Perspektive. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 23-26.
- Kausch, Stefan (2010): Ordnung. Macht. Extremismus – eine Alternativlosigkeit? Über die Gesellschaft der „guten Mitte“ und alternative Politik- und Analyseperspektiven. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 31-44.
- Lipset, Seymour Martin (1981): ‚Fascism‘ – Left, Right, and Center. In: Political Man: The Social Bases of Politics. Baltimore: Johns HopkinsUniversitas Press. 127–152.
- Neugebauer, Gero (2001): Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen. In: Wilfried Schubarth / Richard Stöss (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz. Opladen: Leske und Budrich. S. 13-37 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 368).
- Neugebauer, Gero (2010): Der Extremismusansatz aus wissenschaftlicher Sicht. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 11-18.