Wortschatz-Komplexitätsmaße im Test

Hier mal eine kleine Illustration, welche Ergebnisse die Wortschatz-Komplexitätsmaße für die Klassifikation von Texten liefern. Als Beispielkorpus habe ich die Texte der militanten gruppe gewählt, weil deren Texte vom BKA schon einmal einer forensischen Analyse unterzogen wurden: einer Analyse im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit den Texten eines Soziologen, den man verdächtigte Mitglied der Gruppe zu sein. Dabei sollen Inhaltswörter das Hauptkriterium gewesen sein, wollen uns der Spiegel und andere Medien glauben machen. Die Analyse wurde zu einem jener Indizen, mit denen Überwachung, Festnahme und U-Haft des Soziologen gerechtfertigt wurden. Die folgenden Proberechnungen sind keine ernst zu nehmenden forensischen Analysen, die irgend etwas über die Autoren der Texte der mg aussagen. Sie sollen vielmehr zeigen, wie problematisch der Umgang mit Wortschatz-Komplexitätsmaßen ist. Ich halte es daher auch für unproblematisch, sie zu veröffentlichen.

  • Eine Übersicht über die Texte der mg findet sich in der Tabelle am Ende dieses Blog-Eintrags.
  • Die Texte der militanten gruppe gibt es übrigens unter http://www.semtracks.com/cosmov/ als Korpus für sprachlich-sozialwissenschaftliche Analysen.

Die Analyse erfolgte in zwei Schritten: Zuerst wurden für jeden der 52 Texte die Werte Yule’s K, Sichel’s S, Brunet’s W und Honoré’s R berechnet; im Anschluss wurden die Texte auf der Basis der Werte mittels einer hierarchischen Clusteranalyse gruppiert. Die Ergebnisse in Kürze:

  1. Die Dendrogramme unterscheiden sich kaum im Hinblick auf die Anzahl der Cluster. Je nach Lesart könnte man drei bis fünf unterschiedlichen Autoren in den Reihen der militanten gruppe annehmen.
  2. Allerdings unterscheiden sich die Dendrogramme stark im Hinblick auf die Zusammensetzung der Cluster; d.h. die Texte, die man den potenziellen Autoren zuweist, variieren stark. Dies hat natürlich Konsequenzen für die Validität der Ergebnisse von (1.)
  3. Besonders bei Honoré’s R und Brunet’s W werden Frequenzeffekte sichtbar, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.
  4. Variablen wie Textsorte oder Entstehungszeit scheinen keinen Einfluss auf die Gruppierung der Texte zu haben. Dies überrascht insbesondere im Hinblick auf die Textsorte, denn es wäre zu erwarten, dass argumentative Texte sprachlich anders gestaltet sind als Bekennerschreiben oder Pressemitteilungen.

Honoré’s R

Die Clusteranalyse zeigen, wie stark das Maß von der Wortzahl abhängig ist. So finden sich alle längeren Texte im Cluster links, das sich am stärksten von den anderen unterscheidet.

Honoré's R: Dendrogramm der Texte der militanten gruppe
Honoré’s R: Dendrogramm der Texte der militanten gruppe


Brunet’s W

Brunet’s W neigt interessanterweise dazu, die sehr kurzen und die sehr langen Texte als einer Gruppe zugehörig zu klassifizieren.

Brunet's W: Dendrogramm der Texte der mg
Brunet’s W: Dendrogramm der Texte der mg


Sichel’s S

Im Fall von Sichel’s, das auf der Auswertung von hapax dislegomena beruht, lässt sich keine Hintergrundvariable wie Textlänge, Textsorte oder Entstehungszeit finden, die die Gruppierung der Texte plausibel machen würde.

mg Dendrogramm Sichel's S
Sichel’s S: Dendrogramm der Texte militanten Gruppe


Yule’s K

Gleiches gilt für Yule’s K.

Yule's K: Dendrogramm der Texte der militanten Gruppe
Yule’s K: Dendrogramm der Texte der militanten Gruppe

Je nach gewähltem Maß kommen man also zu einer sehr unterschiedlichen Gruppierung der Texte. Auch die Maße, in denen sich keine starken Frequenzeffekte zeigen, differieren in ihren Clustern. Die Interpretation dieser Ergebnisse im Hinblick auf die Autorschaft ist daher mehr als fragwürdig.

Nr. Token Datum Titel
0 213 2001-06-12 Auch Kugeln markieren einen Schlußstrich …
1 1632 2001-06-14 Die „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ zur Rechenschaft ziehen – Wolfgang Gibowski, Manfred Gentz und Otto Graf Lambsdorff ins Visier nehmen!
2 1615 2001-06-21 Anschlagserklärung gegen den Niederlassungszweig der Mercedes-Benz AG auf dem DaimlerChrysler-Werk in Berlin-Marienfelde
3 3239 2002-02-05 Anschlagserklärung
4 788 2002-04-29 Anschlagserklärung
5 569 2002-12-31 Anschlagserklärung
6 2032 2003-02-25 Anschlagserklärung
7 845 2003-10-29 Anschlagserklärung – Alba in den Müll! Entsorgt Alba!
8 1121 2003-12-31 Anschlagserklärung
9 1533 2004-03-29 Anschlagserklärung
10 1596 2004-05-06 Anschlagserklärung
11 1681 2004-09-23 Anschlagserklärung
12 816 2005-01-10 Anschlagserklärung
13 857 2005-04-29 Anschlagserklärung
14 1777 2005-11-08 Anschlagserklärung!!!
15 1584 2006-02-16 Anschlagserklärung
16 1209 2006-03-20 Anschlagserklärung
17 2520 2006-04-10 Anschlagserklärung
18 510 2006-05-05 Glückwunschtelegramm & Nachschlag
19 844 2006-05-23 Anschlagserklärung
20 1139 2006-09-03 Anschlagserklärung
21 517 2006-09-10 Anschlagserklärung
22 1824 2006-10-13 Dementi & ein bisschen Mehr
23 1253 2006-12-19 Anschlagserklärung: Das war Mord!
24 419 2007-01-14 Anschlagserklärung
25 505 2007-05-18 Anschlagserklärung
26 2023 Winter 2005 mg-express No.1
27 2114 Sommer 2006 mg-express No.3
28 2547 Herbst 2006 mg-express No.4
29 2384 Frühjahr 2007 mg-express no.5
30 3421 2001-11-23 Ein Debattenversuch der militanten gruppe (mg)
31 9093 2002-08-01 Eine Auseinandersetzung mit den Autonomen Gruppen und Clandestino über die Organisierung militanter Gruppenstrukturen
32 12021 Sommer 2005 Wir haben uns mit einer Menge Puste auf den Weg gemacht
33 1494 2005-01-29 Versuch eines Streitgespräches – Reaktion auf das Interview mit Norbert „Knofo“ Kröcher in der Jungle World Nr. 4/26.1.2005
34 1407 2005-02-15 Zum Interim-Vorwort der Nr. 611 vom 10.2.2005
35 1175 2005-04-01 Anmerkungen zum barricada-Interview mit den Magdeburger Genossen
36 1859 2005-04-01 Zur jw-Artikelserie „Was tun? In der Stadt, auf dem Land oder Papier: Guerillakampf damals und jetzt“
37 3752 2005-06-01 Zur „postautonomen und konsumistischen“ Sicht auf die Militanzdebatte
38 1355 2005-07-01 Was machen wir als militante gruppe (mg) auf einem Sozialforum – haben wir denn nichts Besseres zu tun?
39 2912 2005-08-01 Mut zur Lücke? Zu Wolf Wetzels „postfordistischer Protestwelt“
40 8358 Mitte Mai 2006 Clandestino – was wollt ihr eigentlich?
41 2475 2006-06-03 Zur „Roggan“-Anschlagserklärung der autonomen gruppen
42 2993 2007-04-11 Das „Gnadengesuch“ von Christian Klar und der Instrumentalisierungsversuch einer militanten Aktion
43 8086 Ende Mai 2007 Erklärung zur BWA-Razzia und „Gewaltdebatte“ im Rahmen der Anti-G8-Proteste
44 5172 2002-05-09 Für einen revolutionären Aufbauprozess – Für eine militante Plattform
45 1859 2002-12-19 Presseerklärung – Nr. 1/2002
46 1841 2003-04-17 Presseerklärung zum revolutionären 1. Mai 2003 in Berlin – Nr. 1/2003 von der militanten gruppe (mg)
47 7200 2003-06-15 Ein Beitrag zum Aufruf „27. Juni 1993 – 10 Jahre nach dem Tod von Wolfgang Grams. Glaubt den Lügen der Mörder nicht! Kein Vergeben – Kein Vergessen! Gemeinsam den Kampf um Befreiung organisieren!
48 2623 2004-06-08 Eine Nachbetrachtung zum revolutionären 1. Mai 2004 in Berlin
49 57053 2004-07-01 Bewaffneter Kampf – Aufstand – Revolution bei den KlassikerInnen des Frühsozialismus, Kommunismus und Anarchismus, 1. Teil
50 15696 2004-12-01 (Stadt)guerilla oder Miliz?
51 21701 2006-01-01 Kraushaars Buch „Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus“ und die Diskreditierung des bewaffneten Kampfes


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Wortschatz-Komplexitätsmaße und Autoridentifizierung

Die Hoffnung, Autoren anhand eines einzigen Indikators unterscheiden oder identifizieren zu können, stand am Anfang der Stilometrie. Der Fokus richtete sich dabei auf Maße, die unterschiedliche Aspekte des Wortschatzgebrauchs modellieren. Sie erlauben Aussagen über eine oder mehrere der folgenden vier linguostatistischen Dimensionen:

  • Verteilung: die Verteilung der Häufigkeit der verwendeten Wörter
  • Konzentration: Anteil (n mal) wiederkehrender Wörter
  • Vielfalt: Anteil nur selten vorkommender Wörter
  • Abdeckung: modelliert das Verhältnis von bestimmten Teilen des Wortschatzes zum Gesamttext (wie viel Prozent eines Textes wird mit den n häufigsten Wörtern / mit Funktionswörtern / … realisiert)

Die Wortschatz-Komplexitätsmaße beruhen meist auf einer teilweisen Verrechnung der folgenden textstatistischen Größen:

  • Anzahl der Token (= Wortzahl eines Textes): N
  • Anzahl der Types (= Anzahl der unterschiedlichen Wörter in einem Text): V
  • Anzahl der hapax legomena (= Types, die genau ein Mal im Text vorkommen): V1
  • Anzahl der dislegomena (= Types, die genau zwei Mal im Text vorkommen): V2
  • Anzahl der Types, die i Mal im Text vorkommen: Vi

Sie erheben den Anspruch, eine Aussage über die Wortschatzdifferenziertheit zu erlauben, das heißt über die Komplexität oder Schlichtheit des in einem Text zum Einsatz kommenden Wortschatzes.

Im Folgenden eine unvollständige Liste prominenter Maße für die Wortschatzkomplexität.

Honoré’s R (1979)

Das von Antony Honoré 1979 vorgeschlagene Maß R basiert auf der Frequenz von nur einmal vorkommenden Wörtern, sogenannten hapax legomena. Es wird wie folgt berechnet:

R = 100 * log N/(1-(V1/V))

Es geht davon aus, dass je häufiger ein Autor Wörter nur einmal benutzt (also beispielsweise Wortwiederholungen vermeidet), desto differenzierter sein Wortschatz ist.

R variiert typischerweise in einer Spanne von 1000 bis 2000, wobei höhere Werte auf einen komplexeren Wortschatz im Text verweisen und zwar in dem Sinn, dass eine große Anzahl Wörter selten im Text auftritt.

Das Maß R ist so konstruiert, dass es unabhängig von der Länge des Textes ist. Es impliziert die Annahme, dass das Verhältnis von hapax legomena zur Menge aller Types bezüglich der logarithmierten Textgrösse konstant ist. Leider ist dies aber nicht der Fall, wie Tweedie und Baayen nachweisen konnten, nimmt es mit zunehmender Textlänge ab.

Sichel’s S (1975)

Dieses Maß beruht auf dem Verhältnis der Frequenz der dislegomena, also von Wörtern, die genau zwei Mal vorkommen, zur Anzahl der Types in einem Text:

S = V2/V

Sichels Untersuchungen ergaben, dass diese Zahl für einen Autor bei Texten zwischen 1000 und 400.000 Wörtern annähernd konstant blieben, sich also robust gegenüber Textlängenschwankungen verhielten.

Brunet’s W (1978)

Ein Maß, das Aussagen weitgehend unabhängig von der Textlänge erlaubt ist Brunet’s W. Es wird wie folgt bestimmt:

W = N^V^-a (lies: N hoch V hoch -a), wobei a eine Konstante ist; Brunet verwendete: a = 0.172

Das Ergebnis variiert gewöhnlich zwischen 10 und 20, wobei ein kleiner Wert eine höhere Komplexität anzeigt.

Yule’s K (1938)

Dieses bereits 1938 vom Statistiker George Udny Yule entwickelte Wortfrequenzmaß gibt an, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass beim zufälligen Auswählen zweier Wörter aus einem Text zweimal das gleiche Wort gewählt wird. Es wird wie folgt berechnet:

K = 10,000 * (M/N2 – 1/N), wobei M = ∑ i^2*Vi ist.

Ein K-Wert 220 bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, beim zufälligen Auswählen zweier Wörter aus einem Text zweimal das gleiche Wort zu erhalten, 1 zu 220 ist. Durch die Quadrieriung der Frequenz der Typegruppen (i^2) werden hochfrequente Wörter stärker gewichtet als hapax legomena.

Unter der Annahme, dass die Wahl der Wörter unabhängig von einander erfolgte, d.h. eine Poisson-Verteilung vorliegt, ist Yule’s K von der Textlänge unabhängig. Allerdings gibt es viele sprachtheoretische Gründe und empirische Evidenzen anzunehmen, dass die Wahl der Wörter nicht unabhängig von einander erfolgt.

Sprachliche Merkmale bei der Textklassifikation und Autorenidentifikation

Will man Texte klassifizieren, z.B. Zeitungstexte automatisch in die Kategorien Nachrichten, Kommentar und Feature sortieren, oder untersuchen, ob Texte unbekannter Herkunft von einem bestimmten Autor stammen, dann muss Merkmale festlegen, anhand derer die Texte mit einander verglichen werden sollen, um sie nach Ähnlichkeit zu ordnen. Im Folgenden eine Liste von Merkmalskategorien, die in der Stilometrie häufig zum Einsatz kommen.

Textkomplexität

  • durchschnittliche Wortlänge bzw. Verteilung der Wortlängen im Hinblick auf Silben- oder Buchstabenzahl
  • durchschnittlich Wortzahl pro Satz
  • Verhältnis von Types zu Token
  • Frequenzen von Wörtern, die bestimmten Häufigkeit angehören, beispielsweise Wörter, die nur einmal vorkommen (hapax legomena)

Funktionswörter

  • Grundannahme 1: Funktionswörter variieren nicht oder kaum mit dem Thema des Textes, sondern bilden eine Art stilistische Konstante
  • Grundannahme 2: Funktionswörter werden nicht bewusst manipuliert
  • Für das Englische werden typischerweise folgende Wortklassen (mit insgesamt einigen hundert Vertretern) verwendet: Pronomen, Präpositionen, Hilfsverben, Modalverben, Konjunktionen und Artikel; daneben auch Zahlen und Interjektionen, auch wenn es sich dabei nicht um Funktionswörter im engeren Sinn handelt

Syntax und Wortarten

  • relative Frequenz bestimmter syntaktischer Konstruktionen, anhand von:
  • Verteilung der Ergebnisse syntaktischer Text-Chunker und Parser
  • Verteilung von Wortartensequenzen oder Verteilung aus Folgen der Kombination von Wortarten und bestimmten Wortklassen

Funktionale lexikalische Taxonomien

  • bestimmte Wortarten und Funktionswörter werden in ein Klassifikationsschema gebracht, das semantische und grammatikalische Unterschiede zwischen unterschiedlichen Klassen auf unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion repräsentiert
  • diese Taxonomien können dann benutzt werden, um Merkmale zu konstruieren, die stilistisch relevant sein können: auf der untersten Ebene können dies Funktionswörter oder part-of-speech-Unigramme sein; aber auch abstraktere Ebenen (Verteilung von semantischen Wortklassen) können für die Stilbestimmung eingesetzt werden

Inhaltswörter

  • eine problematische Kategorie, da Inhaltswörter je nach Thema und Kommunikationsbereich variieren
  • üblicherweise können sehr seltene Wörter und solche, die im Korpus eine stabile Verteilung aufweisen, ausgesondert werden
  • als erfolgreich haben sich auch Inhaltswort-n-Gramme und Kollokationen von Inhaltswörtern erwiesen

Buchstaben n-Gramme

  • einige Autoren behaupten, Buchstaben n-Gramme seien nützlich für die Identifizierung lexikalischer Präferenzen, ja sogar für grammatikalische und orthographische Vorlieben
  • der Vorteil: man braucht überhaupt kein linguistisches Wissen
  • offenbar gibt es gewisse Erfolge bei der Anwendung: insbesondere bei der Textsortenidentifikation oder bei der Messung der Ähnlichkeit von Dokumenten

Weitere Merkmale

  • morphologische Analyse: erfolgreich bei morphologisch komplexeren Sprachen
  • Frequenz und Verteilung von Satzzeichen
  • orthographische und/oder grammatikalische Fehler

Traditionelle Forensische Linguistik

Ziel der forensischen Linguistik ist es, aus sprachlichen Äußerungen Informationen über deren Urheber zu gewinnen. Das Attribut „forensisch“ bezieht sich darauf, dass die Äußerung im Kontext von mutmaßlichen Straftaten getätigt wurden oder für deren Aufklärung oder Vorbeugung relevant sind. Dieser Eintrag beschäftigt sich mit der traditionellen forensischen Linguistik, die beispielsweise bei der Analyse von Erpresser- oder Drohbriefen zum Einsatz kommt. Sie hat es mit eher wenig sprachlichem Material zu tun, das einer genauen Analyse unterzogen wird. Mit der computergestützten Stilometrie als Methode der forensischen Linguistik werde ich mich in späteren Beiträgen beschäftigen. Für die Stilmoetrie sind größere Datenmengen erforderlich.

Der linguistische Fingerabdruck: „From Fingerprint to Writeprint“?

Wenn Sicherheitsinformatiker ihre Software verkaufen wollen, dann sprechen sie gerne vom linguistischen Fingerabdruck. Um es gleich vorweg zu sagen: das ist vollkommen unseriös. Außer im Bereich der Stimmidentifizierung (forensische Phonetik) lassen sich sprachliche Äußerungen nicht eindeutig einer Person zuordnen. Der Vergleich  sprachlicher Merkmale von Äußerungen mit einem Fingerabdruck, der für die Identifizierung einer Person verwendet werden kann, ist daher irreführend. Sprachliche „Spuren“ sind keineswegs eindeutig. Der im digitalen Zeitalter von Kriminologen herbeigesehnte „Schreibabdruck“ kann den anaolgen Fingerabdruck nicht ersetzen.

Fehler und Normverstoß

Die traditionelle forensische Linguistik identifiziert also keine Täter, hilft aber dabei, Täterprofile zu erstellen. Sie tut dies, indem sie sprachliche Eigenschaften von Texten mit sozialen Merkmalen in Beziehung setzt. Wichtige Anhaltspunkte sind dabei Verstöße gegen die Regularitäten einer Sprache und gegen sprachliche oder stilistische Normen. Verstöße gegen die Regularitäten einer Sprache können Anzeichen dafür sein, dass der Produzent einer Äußerung kein Muttersprachler ist, insbesondere dann, wenn sie systematisch auftreten. Wenn also in einem Text mehrere Äußerungen wie

… Ich warte für die Übergabe … Ich möchte zu jemandem reden … Suchen Sie nicht für mich …

dann kann man davon ausgehen, dass der Verfasser kein Muttersprachler ist oder sich als Nichtmuttersprachlier  inszenieren möchte. Wenn solche Verstöße als Interferenzen interpretiert werden können, d.h. als Übertragung einer grammatikalischen Struktur aus der Muttersprache, können sie auch als Hinweise auf die Herkunft des Verfassers eines Textes gedeutet werden. Die Beispiele legen den Schluss nah, dass es sich um einen Muttersprachler des Englischen handelt, der hier schrieb und aufgrund mangelnder Kenntnisse des Deutschen feste Verb-Präposition-Verbindungen aus dem Englischen übernommen hat (… I’m waiting for … I want to talk to … Don’t look for …).

Autorprofil — Täterprofil

Neben der Frage, ob es sich um einen Muttersprachler handelt, bieten Texte häufig auch Anhaltspunkte dafür, aus welcher Region ein Autor kommt bzw. ob es Interferenzen mit einem regionalen Dialekt gibt. Wer „größer wie“ statt „größer als“ schreibt, kommt wahrscheinlich nicht aus Norddeutschland. Wer die regionale Variante „benützen“ gebraucht, kommt eher aus dem Süden des deutschen Sprachraums, wahrscheinlich aus dem Südwesten. Die Beherrschung der Rechtschreibung und Interpunktionsregeln, aber auch der richtige bzw. falsche Gebrauch von Fremdwörtern und die syntaktische Komplexität können Hinweise auf den Bildungsstand des Autors liefern. Die Einhaltung bestimmter stilistischer Normen kann zudem auch als Hinweis auf das Alter gedeutet werden. Rückschlüsse auf das Geschlecht des Verfassers sind allerdings nicht möglich.

Forensische Linguistik beim BKA

Das Bundeskriminalamt arbeitet mit dem Kriminaltechnischen Informationssystem Texte (KISTE), das die systematische Erfassung, Annotation, Interpretation und den Vergleich von Texten unterstützt. Aus der verlinkten Powerpoint-Präsentation einer Mitarbeiterin des BKA geht hervor, dass mehr als die Hälfte der untersuchten Texte Schreiben von Erpressern sind; Bedrohung und Volksverhetzung folgen in weitem Abstand. Terrorismus und Extremismus machen gerade einmal 5% der Fälle aus.

Fehleranalyse vs. Stilometrie

Die Fehleranalyse ist besonders dann ein erfolgversprechendes Vorgehen, wenn nur eine geringe Menge sprachlicher Daten vorliegt, die sich für statistische Analysen nicht oder kaum eignet. Bei größeren Datenmengen, in denen signifikante sprachliche Muster identifiziert werden können, kann ein breiteres Spektrum linguistischer Phänomene für die Zuordnung von Texten zu außersprachlichen Merkmalsbündeln herangezogen werden. Dazu demnächst mehr in einer kleinen Serie über Methoden der Stilometrie.

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„Überwachung“ und Selbstzwang

Posted on 14th April 2011 in Allgemein, Politik, Semantik, Überwachung und Sicherheit

Als an meiner Universität ein neues Gebäude errichtet wurde, fanden sich darin auffällig viele Kameras. Ich machte mir den Spaß, die Kameras zu zählen und musste feststellen, dass auf fünf Stockwerken nicht weniger als 43 Kameras mehr oder weniger offensichtlich angebracht waren. Gerne wollte ich nun von meiner Universitätsverwaltung wissen, was der Grund dafür sei, dass sie so viele Überwachungskameras installieren lassen hatte, wo doch von Kriminalität an meiner Universität keine Rede sein kann. Zur Antwort erhielt ich, dass die Universität keine Überwachungskameras habe anbringen lassen, sondern Sicherheitskameras.

Die sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit

Wörter prägen unsere Wahrnehmung. Die Bezeichnung eines Gegenstandes konstruiert diesen Gegenstand mit, besonders dann, wenn er politisch umstritten ist. Die konkurrierenden Bezeichnungen für die in Rede stehenden Kameras heben jeweils einen Aspekt an ihrer Funktion hervor, der den Beteiligten besonders relevant erscheint. Der freundliche Verwaltungsangestellte, der meine Anfrage beantwortete, war überzeugt, dass die Kameras der Sicherheit der Studierenden diene, denn — so seine Begründung — die Bilder, die die Kameras aufzeichne, würden nur dann zur Ansicht freigegeben, wenn etwas vorgefallen sei. Es handle sich also nicht um Überwachung.

„Überwachung“ in Wörterbüchern

Als ich dann das Wort  im Grimm’schen Wörterbuch nachschlug, war ich fast geneigt, ihm Recht zu geben. Dort heißt es zur Bedeutung von „überwachen“:

bewachen, beaufsichtigen, im auge behalten, erst seit beginn des 19. jahrh. zu breiter verwendung gelangt
a) personen und sachen ü., beaufsichtigen (…)
b) eine thätigkeit ü., beaufsichtigen

Beaufsichtigt wurde tatsächlich niemand, denn es gab ja keinen Aufseher, also keinen Menschen hinter der Kamera. Auch die abstraktere Definition in Gablers Wirtschaftslexikon rechtfertigt es kaum, im Fall des speziellen Umgangs mit den Kameras an meiner Universität von „Überwachung“ zu sprechen:

Vorgehen, bei dem eventuelle Abweichungen zwischen beobachtbaren Istzuständen und vorzugebenden bzw. zu ermittelnden Sollzuständen festgestellt und beurteilt werden sollen.

Überwachung liegt also dann vor, wenn man Beobachtungen vornimmt, um die Abweichung von einer Norm festzustellen und zu beurteilen. Der Zweck der Überwachung ist die

Fehlerentdeckung und Fehlervermeidung sowie Erlangung von Informationen, die der Entscheidungsverbesserung all derjenigen dienen können, die über das Ergebnis der Überwachung unterrichtet werden.

Eine Kamera also, die Aufzeichnungen macht, die nur dann angesehen werden, wenn jemand eine Straftat meldet, deren Bilder aber sonst nach 48 Stunden gelöscht werden, scheint auf den ersten Blick tatsächlich keine Überwachungskamera zu sein. Denn, so argumentierte der Verwaltungsangestellte: wo keine Auswertung ist, dort ist auch keine Information, wo kein Beobachter ist, dort ist auch keine Überwachung. Die Kameras seien also tatsächlich nur Sicherheitskameras, denn durch ihre bloße Existenz verhinderten sie, dass überhaupt etwas vorfallen könne.

Panoptismus

Ich habe mit meinen Studierenden lange darüber diskutiert, ob sie angesichts der Existenz der Kameras ihr Verhalten verändern oder sich genauso verhalten wie unbeobachtet von den vielzähligen elektrischen Augen. Etwa die Hälfte vertrat die Ansicht, die Kameras hätten keinen Einfluss auf ihr Verhalten. Die andere Hälfte jedoch war der Ansicht, dass die gefühlte Beobachtung ihnen ein zwangloses Verhalten verunmögliche und sie sich merkwürdig diszipliniert fühlten. Das Wissen um die theoretische Möglichkeit, Gegenstand von gezielter Beobachtung durch eine Institution werden zu können, die im Falle eines Falles durchaus Zwangsmaßnahmen zu verhängen bzw. durchzusetzen in der Lage ist, führte also bei einem Teil der Studierenden dazu, dass sie sich Selbstzwängen unterwarfen, die sich verinnerlichten Normen der Richtigkeit und Wohlanständigkeit von Verhalten verdankten. Die Kameras entfalteten in ihnen einen Konformitätsdruck. Für diesen Mechanismus hat Michel Foucault die Bezeichnung Panoptismus geprägt. Auch wenn die Kameras abgeschaltet sind: Sie verweisen auf die Möglichkeit ihres Gebrauchs und können so unser Verhalten beeinflussen.

Selbstzwang und Zivilisation

Die Ausbildung von Selbstzwängen hat Norbert Elias mit dem Prozess der Zivilisation in Beziehung gesetzt. Menschen, die in „einfacheren“ (agrarisch geprägten) Gesellschaften lebten, verfügten seiner Ansicht nach über eine weniger differenzierte Selbstzwangapparatur als Menschen in hochdifferenzierten und besonders in mehrparteilichen Industriegesellschaften. Sie bedürften

zur Selbstzügelung in sehr hohem Maße der Verstärkung durch die von anderen erzeugte Furcht, den von anderen ausgeübten Druck. Der Druck kann von anderen Menschen, also etwa von einem Häuptling ausgehen oder von imaginierten Figuren, also etwa von Ahnen, Geistern oder Göttern. Was immer die Form, es bedarf hier eines sehr erheblichen Fremdzwanges, um bei Menschen das Selbstzwanggefüge zu stärken, das für ihre eigene Integrität, ja für ihr Überleben – wie auch für das der anderen Mitlebenden – erforderlich ist.

Zivilisationsprozesse sind, wie ich bei meinen Untersuchungen fand, gekennzeichnet durch eine Veränderung im Verhältnis von gesellschaftlichen Fremdzwängen und individuellen Selbstzwängen.

Die allgegenwärtigen Kameras sind keine Häuptlinge und keine strafenden Götter. Sie sind keine Fremdzwangapparate, die uns drohen. Sie sind aber mehr als das kritische Auge oder der strafende Blick der Mitmenschen, der uns dazu bewegt, die Normen unseres Zusammenlebens zu hinterfragen und so einen zivilisatorischen Effekt zu entfaltet. Sie sind auch Manifestationen unserer kollektiven Ängste. Doch bilden sie diese Ängste nicht einfach ab. Sie verstärken sie.

Quellen:

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„Sicherheit“ als Schlagwort in der Politik

Posted on 14th April 2011 in Politik, Semantik, Überwachung und Sicherheit

„Sicherheit“ ist eines jener politischen Schlagwörter, die in fast allen Verwendungskontexten positiv konnotiert sind: ein Mirandum. Keine Partei kann ernsthaft gegen Sicherheit sein, so wie keine Partei es sich erlauben kann, gegen soziale Gerechtigkeit oder Freiheit zu politisieren. Gerade deshalb kann die Vokabel der Sicherheit aber dazu benutzt werden, um in ihrem Namen politisch umstrittene Maßnahmen zu rechtfertigen. Wie viele politischen Schlagwörter ist „Sicherheit“ semantisch unterbestimmt und offen für viele Verwendungsweisen. Entsprechend wird der Begriff der Sicherheit von den Parteien in Deutschland unterschiedlich oft und je nach Partei in unterschiedlichen Kontexten schwerpunktmäßig verwendet.

Die folgende Grafik zeigt, dass insbesondere Parteien, die sich das Eintreten für Bürgerrechte auf die Fahnen geschrieben haben, das Lemma „Sicherheit“ und seine Derivate besonders häufig verwendet werden. Die Grafik zeigt die relative Frequenz je 10.000 Wörter in den Pressemitteilungen der Jahre 2005-2009. An der Spitze liegen die Grünen mit durchschnittlich 12,3 Referenzen auf Sicherheit je 10.000 Wörter, gefolgt von der FDP mit 11,1. Am Ende des Rankings finden sich mit weitem Abstand die SPD und überraschenderweise die rechtsextreme NPD.

Frequenz des Lemmas "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der Parteien (2005-2009)

Trotz der relativen hohen Frequenz der Verwendung des Wortes bei den GRÜNEN ist der Gebrauch auf wenige Verwendungskontexte beschränkt: auf das Spannungsfeld von Sicherheit auf der einen und Bürgerrechten und Freiheit auf der anderen, auf die (mangelnde) Sicherheit der Atomenergie und damit zusammenhängend der Ausbau alternativer Energien und schließlich den Schutz von Familien, Verbrauchern, aber auch des geistigen Eigentums. Dies illustriert die folgende Abbildung. Sie zeigt jene Wörter, die besonders häufig zusammen mit dem Wort „Sicherheit“ verwendet werden.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der Grünen 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der Grünen (Pressemitteilungen 2005-2009)

Die SPD benutzt „Sicherheit“ dagegen dominant im Kontext sozialer Themen. Dies illustriert das unten stehende Kollokagramm zum Lemma „Sicherheit“. Der Schutz der „guten“ Arbeit und die Sicherheit von Arbeitsplätzen in Zeiten der Globalisierung sind demnach das zentrale Thema der SPD. Sicherheit ist ein Wert, der den Menschen ein Stück Würde gibt. Die so verstandene Sicherheit ist zwar nicht direkt mit (sozialer) Gerechtigkeit verknüpft, aber dennoch mit ihr über andere zentrale Begriffe assoziiert. Das Wortnetz zeigt überdies sehr schön, wie die SPD die Menschen im Spannungsfeld von Sicherheit, Freiheit und (starkem) Staat verortet.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der SPD 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der SPD (Pressemitteilungen 2005-2009)

Auch bei der FDP finden sich die Menschen, die stets als „Bürger“ bezeichnet werden, im Kräftefeld von Freiheit, Sicherheit und Staat wieder. Doch fehlt dem Staat im Unterschied zur SPD das Atrribut „stark“. Der Staat der FDP gewährleistet die Versorgungssicherheit und schützt die Freiheit. Die soziale Sicherheit ist nur ein Aspekt von Sicherheit. In ihr tritt neben die insgesamt marginaler platzierte soziale Gerechtigkeit auch die Leistungsgerechtigkeit. Der Sicherheitsbegriff der FDP hat zudem auch eine starke sicherheitspolitische Dimension: nach Innen mit der Polizei, nach außen mit der Bundeswehr, wobei dei europäischen und transatlantischen Allianzen betont werden.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der FPD 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der FPD (Pressemitteilungen 2005-2009)

Bei der CDU verweist die Verwendung des Lemmas „Sicherheit“ auf eine starke Affinität zu den Politikfeldern innere und äußere Sicherheit. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und die Sicherung von Frieden, Freiheit und Menschenrechten im europäischen Kontext bilden einen wichtigen Assoziationskomplex. Daneben ist der Sicherheitsbegriff der CDU auch mit sozialpolitischen Themen verbunden, wobei die Sicherheit des sozialen Netzes und der sozialen Sicherungssysteme im Zentrum stehen. Ein Alleinstellungsmerkmal bei der CDU ist die häufige Referenz auf die Sicherheit der Kernkraftwerke und damit gekoppelt der Energieversorgung.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der CDU 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der CDU (Pressemitteilungen 2005-2009)

Bei der Partei „Die Linke“ (PDL) lassen sich drei Dimensionen des Sicherheitsbegriffs identifizieren: eine sozialpolitische (soziale Sicherheit und Teilhabe), eine auf die Grundwerte bezogene (Spannungsfeld von Sicherheit, Freiheit und Bürgerrechten) und eine militärische, die freilich kritisch gewertet wird.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der PDL ("Linkspartei") 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der PDL („Linkspartei“) (Pressemitteilungen 2005-2009)

Die NPD ist die einzige Partei, bei der Sicherheit und Kriminalität ein hochfrequent assoziiert sind. Daneben werden Sicherheit und nationale Identät und Eigeninteressen in einen semantischen Zusammenhang gebracht. Die große Nähe der Lemmata „deutsch“, „Volk“ und „NPD“ zeigt, wie sehr in der braunen Ideologie Partei und Volk Ineinsgesetzt werden.

Kollokagramm zum Lemma "Sicherheit" in den Pressemitteilungen der NPD 2005-2009
Der Sicherheitsbegriff der NPD (Pressemitteilungen 2005-2009)

Für dieses Blogs ist das bei mehreren Parteien sichtbar werdende Spannungsfeld von Sicherheit und Grundrechten wie Freiheit oder informationelle Selbstbestimmung das zentrale Thema. Dennoch sollen die Verbindungen zu den anderen Themenbereichen nicht aus den Augen verloren werden. Denn sie sind die argumentativen Quellen für die Verschiebungen im Wertefeld, die wir in den vergangenen Jahren beobachten mussten.

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