Looking Into Black Boxes #2

Posted on 20th September 2014 in Digitale Revolution, Meta

Das Team von „Looking into Black Boxes“ hat mich für die #2 ihrer Serie zum Thema Sprachdialogsysteme und Callcenter interviewt.





Was ich zum Einfluss der Digitalisierung auf die Sprache zu sagen habe, habe ich kürzlich auch für dieses Blog aufgeschrieben. Vielen Dank an Dirk Herzog, Fiona Krakenbürger und Jan Rödger für das interessante Gespräch und den gut gemachten Film!


comments: Kommentare deaktiviert für Looking Into Black Boxes #2 tags: ,

Die Zukunft der deutschen Sprache (im digitalen Zeitalter)

Posted on 11th September 2014 in Digitale Revolution, Meta

Wenn man Texte über die Zukunft der deutschen Sprache liest, dann werden immmer wieder drei Tendenzen genannt:

  • wir werden in Zukunft noch mehr Wörter und Wendungen aus dem Englischen entlehnen
  • die Tendenz von synthetischen Formen zu analytischen Konstruktionen wird sich fortsetzen
  • (Multi-)Ethnolekte werden die Strukturen des Deutschen beeinflussen

So interessant und richtig diese Beobachtungen sein mögen, so scheint mir doch, dass die Zukunft der deutschen Sprache — und auch anderer Sprachen — am meisten davon beeinflusst wird, dass Computer einen immer größer werdenden Anteil an der Kommunikation haben. Aber nicht im trivialen Sinn, dass in der computervermittelten Kommunikation die Sprache verfällt. Computer sind vielmehr direkt oder indirekt immer tiefer in Transferprozesse im Medium der Sprache involviert. Und das hat Folgen in mindestens drei Bereichen:


1. Sprachliche Äußerungen werden nicht mehr nur von Menschen für Menschen produziert

Wenn Menschen früher geschrieben haben, dann haben sie das immer mit der Absicht und im Bewusstsein dessen getan, dass andere Menschen das Geschriebene lesen. Im digitalen vernetzten Zeitalter ist dies längst nicht mehr so. Viele Texte im Netz werden heute in dem Bewusstsein geschrieben, dass die Texte von Suchmaschinen durchsucht werden; und sie werden auf die Indexierungs- und Ranking-Algorithmen der Suchmaschinen hin optimiert. Die Adressaten bei suchmaschinenoptimierten Texten sind also nicht mehr nur die Menschen, sondern auch die Suchmaschine. Auf den Webseiten von „Textoptimierern“ liest sich das dann so: „Ob Blogbeitrag, Produktbeschreibungen, Artikel oder große Webprojekte zu den vielfältigsten Themen: NN ist der schnelle Weg für qualitativ hochwertigen Text-Content, der nicht nur Ihre User, sondern auch Suchmaschinen überzeugt.“ Und es gibt schon lange Texte, die ausschließlich für Suchmaschinen verfasst werden, viele Seiten in Webshops etwa werden nur für Google getextet. Hier ist es Usus, für jedes „Keyword“, also jedes Such-Lexem, das für den eigenen Geschäftsbereich relevant ist, und seine Kombinationen mit anderen Keywords eine eigenständige Landing Page mit „einzigartigem Content, der sich ausschließlich mit dem jeweiligen Keyword beschäftigt“ zu erstellen.

Parallel kommunizieren wir zunehmend natürlichsprachlich mit Computern und nicht mehr ausschließlich vermittelt über eigens für die Mensch-Maschine-Kommunikation entwickelte Sprachen, die wir mühsam erlernen müssen (vulgo: Programmiersprachen), oder von Sprache begleitet ikonische Systeme (vulgo: User Interfaces). Softwareunternehmen arbeiten vielmehr daran, dass wir unsere Anfragen und Befehle an Computer möglichst alltagssprachlich formulieren können, so dass wir den Eindruck bekommen, mit Computern wie mit Menschen interagieren zu können. Siri lässt grüßen.

Gleichzeitig produzieren Computer mehr und mehr auch natürlichsprachliche Texte: Sie verfassen Wikipedia-Artikel oder standardisierte Nachrichtentexte, formulieren Gutachten oder geben Antworten in Dialogsystemen. Und sie produzieren sogar natürlichsprachige Texte, die gar nicht für Menschen gemacht sind: Algorithmen der automatischen Textoptimierung schreiben menschliche Text so um, dass sie von Suchmaschinen höher gerankt werden, oder sie kompilieren die Texte gleich selbst aus natürlichsprachlichem Material. Computer schreiben für Computer.

Ob wir also Texte für Suchmaschinen optimieren, beim Schreiben von E-Mails oder im Chat bestimmte Schlagwörter vermeiden, um nicht in das Visier von Geheimdiensten oder Polizei zu geraten, oder einen Tweet mit einem Hashtag versehen: immer handeln wir im Bewusstsein dessen, dass Computer mitlesen, analysieren und ordnen, um Inhalte auffindbar zu machen. Aber Computer sind immer häufiger auch die Adressaten natürlichsprachiger Äußerungen und produzieren im Zuge dessen auch selbst natürlichsprachlich daherkommende Äußerungen und zwar für Menschen und Computer gleichermaßen. Vielleicht ist es noch nicht an der Zeit zu sagen, dass Sprache damit in letzter Konsequenz nicht mehr eine exklusive Eigenschaft der Spezies Mensch ist; denn Computer sind keine Spezies. Aber Computer haben einen wachsenden Einfluss, auch auf das soziale Konstrukt Sprache.


2. Die Mensch-Maschine-Kommunikation verlangt nach einer Standardisierung der Sprache

Immer dann, wenn Menschen direkt sprachlich mit Maschinen interagieren, sind sie gezwungen, ihre Sprache den Verarbeitungsmöglichkeiten des Computers anzupassen. Schon bei Speech-to-text-Anwendungen, wenn die Maschine nicht mehr ist als ein intelligentes Werkzeug, müssen sie deutlich sprechen oder zumindest auf die Art, wie sie die Maschine trainiert haben. Der adressatenspezifische Zuschnitt von Beiträgen zu einem Gespräch, das die Linguistik recipient design nennt, ist freilich nicht ungewöhnlich, er bedeutet aber beim jetzigen Stand der computerlinguistischen Möglichkeiten auch eine massive Reduktion der sprachlichen Möglichkeiten. Die Folge ist eine Standardisierung unseres Sprachverhaltens, eine Reduzierung der Variation und eine Vermeidung von Ambiguitäten, die zum Misslingen der Kommunikation führen könnten.

Die Chance, dass Computer unsere sprachlichen Äußerungen im von uns intendieren Sinn verarbeiten kann, steigen dramatisch, wenn unsere Äußerung geringe phonetische oder orthographische Variation aufweist, eine einfache, zuverlässig parsbare Syntax hat und wir Kernwortschatz oder terminologisierter Ausdrücke benutzen. Die computerinduzierte Standardisierung unserer Sprache führt also zu Vereinheitlichung, Vereinfachung und Logisierung.

Standardisierung freilich ist nichts, was erst mit dem Computer in die Sprache kam. In allen Sprachen formieren sich Sprachstandards und viele Sprachgemeinschaften haben sogar kodifizierte Standardsprachen ausgebildet. Diese Standardsprachen und ihre Beherrschung werden zweckrational (Verständigung optimieren), kulturelitär (differenzierte Literatursprache als kulturelle Errungenschaft) und gesellschaftspolitisch (Integration durch gemeinsame Sprache) begründet. Sprachvorbilder, die bei der Konstruktion der Standardnorm herangezogen wurden, waren historisch gesehen die Sprache der Schriftsteller, die Sprache der oberen Schichten in den kultiviertesten Regionen oder die Sprache der überregionalen Zeitungen. Die Digitalisierung macht hier einen Paradigmenwechsel möglich: Im Internet kann jeder Mensch sprachliche Spuren hinterlassen, die technisch auf die gleiche Weise zugänglich sind und mit dem gleichen Aufwand erfasst werden können wie die Texte überregionaler Zeitungen. Eine Standardnorm, die sich stärker am Sprachgebrauch aller Angehörigen einer Sprachgemeinschaft orientiert, ist denkbar. Doch just in diesem historischen Moment wird der Computer selbst zum Faktor der Standardisierung: Sprachnormen werden nicht mehr allein von Menschen auf der Basis menschlichen Handelns gemacht, die Kommunikation mit, für und von Computern führt vielmehr neue Begründungsmuster in den Sprachnormendiskurs ein. Standardsprache wird in Zukunft auch daran gemessen, wie gut sie maschinell verarbeitbar ist.


3. Vom Gewebe zur Struktur: Die Vertextung von Wissen tritt zurück hinter die Repräsentation von Wissen in der Form strukturierter Daten

Der Text ist die klassische Form der Wissensspeicherung, der Wissensvermittlung und der diskursiven Verhandlung von Wissen. Und das mit gutem Grund: in Texten kann Wissen begründet, hinterfragt und durch Verweise auf andere Texte mit Kontextwissen verknüpft werden. Texte sind kohärente, d.h. thematisch orientierte, Sprachhandlungen, die aus transphrastischen semantischen und syntaktischen Beziehungen, kulturellen Konventionen und Stilprinzipien ihre Einheit erhalten. Als Gewebe sind Texte nicht linear, auch wenn ihre graphische Repräsentation das suggeriert. Ihre Bestandteile sind komplex miteinander verknüpft und die Gesamtheit der Verknüpfungen lassen den Text überhaupt erst als solchen entstehen. Und Texte sind offen für Interpretationen, ihr Sinn liegt nicht fest, bestenfalls gibt es Auslegetraditionen.

Mit all diesen Dingen sind Computer überfordert. Im Textmining war ein Text lange eine bag of words, ein Sack voller Wörter. Die grundlegende Idee hinter diesem schon in den 1960er Jahren entwickelten Ansatz ist, dass sich die Bedeutung eines Textes mit Hilfe des Gewichts der im Dokument vorkommenden Terme operationalisieren ließe. Ein Text wird dann als Vektor repräsentiert, dessen Elemente die dokumentenspezifischen Werte jedes einzelnen Terms enthält. Auch wenn die Merkmalsvektoren komplexer geworden sind und mehr Eigenschaftsdimensionen natürlicher Sprachen abbilden, so sind Informatik und Computerlinguistik noch weit davon entfernt, den menschlichen Umgang mit Texten modellieren zu können.

Und solange dieses Defizit besteht, solange wird immer dann, wenn Wissen nicht nur für Menschen, sondern auch für Computer bereitgestellt werden soll, die Datenbank den Vorrang vor dem Text erhalten. Die Entstehung von Wikidata ist ein Symptom für diese Entwicklung. Die vermeintliche Eindeutigkeit der strukturierten Daten, der Versuch, die Komplexität der Welt in einem Datenmodell abzubilden, mag zwar einen Gewinn an Präzision und Eindeutigkeit mit sich bringen, die Computer für ihre Operationen benötigen; diese Eindeutigkeit ist aber per se eine Beschränkung der möglichen Bedeutungen von kulturellen Einheiten, Phänomenen, ja von Fakten und entspricht nicht der Art, wie bislang in unserer Gesellschaft mit Wissen umgegangen wird. Und die Kultur der strukturierten Daten, die maschinell verarbeitet, verknüpft, verbreitet und universell importiert werden können, ist offener für Manipulation und Missbrauch als die Textkultur.


Auch wenn an einzelnen Stellen Kritik anklingt, will ich die geschilderten Tendenzen nicht negativ beurteilen. Denn neben dem Verlust eines Alleinstellungsmerkmals unserer Spezies, an alleiniger Definitionsmacht der Menschen über Sprachnormen und dem Verlust des Primats von Texten gegenüber strukturierten Daten gewinnen wir durch die Digitalisierung der Sprache und ihre maschinelle Modellierung auch unendlich viele neue kommunikative Möglichkeiten. Und an Möglichkeiten, die digitalisierte Sprache zu hacken.



Für die Sächsische Zeitung hat Dominique Bielmeier mit mir über das Thema gesprochen.

Maschinelle Analyse narrativer Muster: Wie Männer und Frauen vom “Ersten Mal” erzählen

Posted on 5th September 2014 in Kollokationen, n-Gramme, Off Topic, Visualisierung

Ich hatte mein erstes Mal -> mein erstes Mal mit # -> nahm mich in den Arm -> fragte er mich ob ich -> wir bei ihm zu Hause -> seine Eltern nicht da waren -> kam er auf mich zu -> mich zu küssen und ich -> legten uns auf sein Bett -> fragte mich was los sei -> noch nie einen Freund gehabt -> zogen wir uns gegenseitig aus -> Wir küssten uns leidenschaftlich und -> Dann zog ich ihm seine -> Er schaute mich an und -> schaute mich an und fragte -> an und fragte ob ich -> mit ihm schlafen wolle und -> Er holte ein Kondom aus -> Dann drang er vorsichtig in -> er vorsichtig in mich ein -> Er fragte mich ob ich -> Als er merkte dass ich -> nahm mich in den Arm -> seit # Jahren zusammen und

Diese Phrasen bleiben von einer Geschichte vom „Ersten Mal“, wenn man von ihr das Vereinzelnde, Individualisierende wegnimmt und nur jene Teile der sprachlichen Gestaltung übrig lässt, die auch in anderen Geschichten zum gleichen Thema häufig vorkommen.

Wenn wir unseren Alltag erzählen, dann bedienen wir uns kulturell geprägter Muster. Diese Narrative sind sozial akzeptierte Interpretationsmuster, die unsere Wahrnehmung und Darstellung von Zusammenhängen überhaupt erst ermöglichen, aber gleichzeitig auch begrenzen. Obwohl sie höchst Persönliches und Individuelles zu codieren vorgeben, folgen auch Narrative vom „Ersten Mal“ kulturell geprägten Mustern, denen man sich mit maschinellen Methoden nähern kann. Zusammen mit Noah Bubenhofer und Nicole Müller habe ich 3376 Geschichten vom „Ersten Mal“ auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin untersucht.

Sämtliche Geschichten wurden auf den Internet-Plattformen rockundliebe.de (2094 Erzählungen), Erstes-Mal.com (385 Erzählungen) und planet-liebe.de (897 Erzählungen) gesammelt. Die Webseiten wurden automatisiert heruntergeladen, die Texte extrahiert, mit Metainformationen (Alter beim Ersten Mal und Geschlecht) versehen, mit Hilfe des TreeTagger lemmatisiert und mit Part-of-speech-Informationen annotiert. Zusätzlich wurden alle Zahlen durch ein Raute-Symbol ersetzt. Insgesamt umfasst das Korpus 1.886.588 laufende Wortformen. Im Hinblick auf die Dimension Geschlecht ist das Korpus ungleich verteilt: rund 73% der Geschichten stammen von Frauen, nur rund 27% von Männern. Geschichten von Frauen waren mit durchschnittlich 567.9 Wörtern um rund 33 Wörter länger als die von Männern (534.5). Das Durchschnittsalter beim Ersten Mal, wie es von den Autorinnen und Autoren angegeben wurde, lag bei Frauen bei 15.8, bei Männern bei 16.8 Jahren.

Als Analysekategorien dienten uns die Distribution und Verkettung von n-Grammen. Die folgende Tabelle zeigt einen Vergleich der für das jeweilige Korpus typischsten n-Gramme:


Männer-Korpus Frauen-Korpus
llr n-gram f(1) f(2) llr n-gram f(1) f(2)
145,33 fragte sie mich ob ich 0 54 80,84 drang er in mich ein 134 0
88,81 fragte ich sie ob sie 0 33 77,82 ob ich mit ihm schlafen 129 0
75,36 drang ich in sie ein 0 28 68,97 fragte er mich ob ich 167 5
67,28 Ich fragte sie ob sie 0 25 60,93 in mich ein Es tat 101 0
64,59 drang langsam in sie ein 0 24 60,93 legte er sich auf mich 101 0
64,59 setzte sie sich auf mich 0 24 47,66 legte sich auf mich und 79 0
64,59 und zog es mir ueber 0 24 47,66 und drang in mich ein 79 0
61,9 setzte sich auf mich und 0 23 45,85 nahm mich in den Arm 76 0
59,21 sie sich auf mich und 0 22 44,64 und legte sich auf mich 74 0
56,52 ob ich mit ihr schlafen 0 21 44,04 fing er an mich zu 73 0
53,83 Sie fragte mich ob ich 0 20 43,43 er sich auf mich und 72 0
53,83 in sie ein Es war 0 20 42,83 in mich ein Es war 71 0
53,83 mir ein Kondom ueber und 0 20 41,81 Er fragte mich ob ich 123 6
53,83 und ich fragte sie ob 0 20 41,02 und zog es sich ueber 68 0
51,13 fluesterte sie mir ins Ohr 0 19 40,42 ihn in mir zu spueren 67 0
51,13 ich fragte sie ob sie 0 19 40,42 Er legte sich auf mich 67 0
48,44 an mir einen zu blasen 0 18 38 er fragte mich ob ich 63 0
48,44 ich drang in sie ein 0 18 38 mich ob ich mit ihm 63 0
48,44 legte sich auf den Ruecken 0 18 35,59 fragte mich ob ich es 59 0
48,44 mir das Kondom ueber und 0 18 34,38 Ich war mit meinem Freund 57 0


Aus diesen Listen wird unter anderem erkennbar, dass die verbale Handlung des Fragens, oder präziser: des Einholens von Einverständnis, offenbar häufig Bestandteil von Erstes-Mal-Erzählungen sind. Ebenso zeigen sich einige wenige geschlechtsspezifische Unterschiede: etwa die Referenz auf die Dauer der Beziehung („Ich war mit meinem Freund“).

Als eine erste Annäherung an die narrative Struktur haben wir die typischen Positionen von n-Grammen in den Texten bestimmt. Hierfür haben wir alle Texte in mehrere jeweils gleich große Teile geteilt und dann untersucht, in welchen Teilen der Erzählungen die n-Gramme mit welcher Frequenz vorkommen. Die folgenden Abbildungen zeigen die Distribution einiger n-Gramme, deren Positionierung im Text geschlechtsspezifische Unterschiede aufweist. Dies sind beispielsweise n-Gramme, die sexuelle Erfahrung und Beziehungsstatus betreffen:



Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte)

Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte)



Während das n-Gramm „für uns beide das erste“ von Frauen im ersten und vorletzten Abschnitt am häufigsten gebraucht wird, erwähnen Männer die Tatsache, dass es für beide das Erste Mal war, erst am Ende ihrer Erzählungen. Auch das n-Gramm „schon # Monate zusammen und“ wird von Frauen dominant in den ersten Teilen ihrer Geschichten verwendet, Männer hingegen benutzen es am Ende. Eine Kontextanalyse zeigt allerdings, dass bei Verwendung des n-Gramms am Ende einer Erzählung der Geschlechtsakt der Auftakt der Beziehung war, die ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart zum Zeitpunkt des Schreibens hat; die Verwendung des n-Gramms zu Beginn einer Erzählung stellt die Dauer der bereits bestehenden Beziehungen dar.

Größere Differenzen in der Distribution zeigen sich auch bei n-Grammen, die auf Schlüsselhandlungen im Kerngeschehen verweisen.



Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte).

Distribution von n-Grammen in den Geschichten von Männern und Frauen (normalisierte Werte).



So sind die n-Gramme „uns in die Augen und“ und „gab mir einen Kuss und“ je gegensätzlich verteilt. Während in den Erzählungen der Frauen der Kuss am Anfang jener Abschnitte zu finden ist, die sich mit sexuellen Handlungen befassen, berichten Männer hier vorwiegend von Blicken in die Augen; Männer berichten, am Ende der sexuellen Aktivitätsphase geküsst zu werden, Frauen erzählen hier dagegen vom Austausch von Blicken. Dies könnte man so deuten, dass für Frauen mit dem Vollzug des Geschlechtsaktes eine Intensivierung der Beziehung einhergeht, die für den Mann durch die Gabe des Einverständnisses zum Geschlechtsakt durch den tiefen Blick bereits erreicht ist und sich dann im Akt manifestiert. Ein weiterer Aspekt könnte sein, dass Männer narratologisch versichern wollen, dass Einverständnis vorgelegen hat, Frauen dagegen, dass zwischen den Partner emotionale Nähe herrschte. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass sich aufgrund kultureller Stereotype geschlechtsspezifische Ängste mit dem „Ersten Mal“ verbinden. In diesen Kontext passen auch die Positionsdifferenzen des n-Gramms „küssten uns die ganze Zeit“. Während das fortwährende Küssen in den Erzählungen der Männer Teil von „Vor-“ bzw. „Nachspiel“ zu sein scheint, schildern Frauen ihr Erstes Mal so, dass das Küssen Bestandteil aller Phasen des Kerngeschehens sein kann.

Unser Verfahren zur Rekonstruktion narrativer Muster auf der Makroebene kombiniert typische Musterpositionen mit n-Gramm-Verkettungen (d.h. kookkurierenden n-Grammen) und visualisiert sie als hierarchischen Graphen. Der folgende Graph (hier als PDF zum Vergrößern), der Tetragrammverkettungen in den Geschichten von Frauen illustriert, bildet die Abfolge von Mustern in der vertikalen Dimension (von oben nach unten) ab. Mehrere voneinander unabhängige narrative Muster im gleichen Abschnitt, das heißt an ähnlichen Erzählpositionen, werden nebeneinander dargestellt. In diesem Graphen sind Bereiche von geringer phraseologischer Durchdringung und Verdichtungsbereiche sichtbar.



Narrationsgraph für die Erzählungen von Frauen

Narrationsgraph für die Erzählungen von Frauen



Muster in 1 referieren auf das Alter der Hauptpersonen der Erzählung:

Mein erstes Mal hatte – ich mit meinem Freund – hatte ich mit # – erstes Mal mit # – Bei meinem ersten Mal – ersten Mal war ich – Freund und ich waren – Ich war damals # – Ich war # und – # und er war – älter als ich und – ist # Jahre älter

Muster in 2 referieren auf die Dauer der Beziehung:

# Monate mit meinem – Monate mit meinem Freund – # Wochen mit meinem – mit mei-nem Freund zusammen – # Monate mit ihm – Monate mit ihm zusammen

Muster in 3 referieren auf die Frage des Mannes nach dem Einverständnis:

schaute mir tief in die – schaute mir lange in die – in die Augen und – fragte mich ob ich – Er fragte mich ob – mit ihm schlafen – ich es wirklich will – ich es wirklich wollte

Muster in 4 referieren auf das sexuelle Geschehen, in dem vor allem der Mann aktiv ist:

Er holte ein Kondom – Kondom aus seiner Hosentasche – aus seiner Tasche – Kondom aus seinem Nachttisch – holte ein Kondom raus – und streifte es sich – zog es sich über – sich über und drang – ganz vorsichtig in mich – langsam und vorsichtig in – langsam in mich ein – drang in mich ein – in mich ein Es – Es tat überhaupt nicht – tat überhaupt nicht weh

Muster in 5 referieren auf den gegenwärtigen Beziehungsstatus:

Und wir sind immer – immer noch zusammen und – immer noch mit ihm – noch mit ihm zusammen – Schatz ich liebe dich – liebe dich über alles

Die Umrisse der typischen Erzählung vom Ersten Mal aus der Sicht von Frauen werden anhand dieses Verfahrens gut sichtbar. Alternative Erzählstränge, die sich teilweise paral-lel zu den grau hinterlegten Teilen befinden, beziehen sich auf die Aspekte Schmerz („erst tat es ein“, „ein bisschen weh aber“, „dann war es einfach“, „es einfach nur noch“), praktische Unerfahrenheit („versuchte in mich einzudringen“) und die Evaluation („Es war ein wunderschönes“, „Es war ein unbeschreibliches“, „war ein unbeschreibliches Gefühl“, „Ich hätte nie gedacht“).

Aus dem folgenden Narrationsgraph (hier als PDF zum Vergrößern), der die Muster aus männlicher Perspektive verfasster Geschichten visualisiert, will ich nur zwei Auffälligkeiten aufgreifen.



Narrationsgraph der Geschichten von Männern

Narrationsgraph für die Erzählungen von Männern



Zum einen sind dies jene sprachlichen Muster im mit 1 bezeichneten Bereich, die auf die Einholung des Einverständnisses zum Geschlechtsakt verweisen. Hier ist es so, dass die Frage von männlicher wie weiblicher Seite kommen kann („fragte sie mich ob“, „ich fragte sie ob“). Zum anderen findet sich im mit 2 bezeichneten Bereich (siehe die nächste Abbildung) eine auffällige Verbindung mehrerer n-Gramme mit der Mehrworteinheit „Sie meinte ich solle“.



Ausschnitt aus dem Narrationsgraphen der Männer

Ausschnitt aus dem Narrationsgraphen der Männer



Die Analysen zeigen, dass Geschichten vom Ersten Mal von Männern und Frauen recht ähnlich erzählt werden und zwar nicht nur im Hinblick auf das sexuelle Geschehen, sondern auch im Hinblick auf die verbalen Handlungen, die ihm vorausgehen und es begleiten. Zentraler Bestandteil typischer Erzählungen beider Geschlechter ist die verbale Verständigung über die Bereitschaft zum Geschlechtsakt und die explizite Gabe des Einverständnisses durch die Frau. Das von der Paarsoziologie als Schwellen-Wendepunkt bezeichnete Erste Mal wird also als eine durch Einverständnis der Frau legitimierte Handlungsfolge erzählt, in der der Mann mehr Handlungsmacht hat als die Frau.

Die Ergebnisse der Analyse haben wir in folgendem Artikel zusammengefasst, den es auch als Preprint gibt:

Bubenhofer, Noah / Nicole Müller / Joachim Scharloth (2014): Narrative Muster und Diskursanalyse: Ein datengeleiteter Ansatz. In: Zeitschrift für Semiotik. Band 35, Heft 3-4 (2013), S. 419-444.


comments: Kommentare deaktiviert für Maschinelle Analyse narrativer Muster: Wie Männer und Frauen vom “Ersten Mal” erzählen tags: , , , , , , , , , , ,