Autorenidentifizierung: Grundkonstellation und Variationen

Posted on 22nd Januar 2012 in authorship identification, Textklassifikation

Liebe Freunde der Sicherheit,

solange es noch keine Klarnamenpflicht im Internet gibt und noch keine wirksamen Mittel, sie durchzusetzen, ist die Autorenidentifizierung eines der Kerngeschäfte von Sicherheitsinformatikern.

Die Grundkonstellation bei der Autorenidentifizierung sieht wie folgt aus: Zu einem anonymen Text wird ein Autor gesucht. Es gibt eine begrenzte Anzahl möglicher Autoren, von denen jeweils ein Korpus von Texten existiert. Dieses Problem ist im Kern ein Kategorisierungsproblem: Wir müssen die Texte, bei denen die Autoren bekannt sind, anhand ihrer Merkmale in Klassen einteilen und dann untersuchen, in welche Klasse der anonyme Text aufgrund seiner spezifischen Merkmale einteilen würden. Dokumente werden hierfür als numerische Vektoren dargestellt, die die Ausprägung möglicher relevanter Merkmale dieser Texte abbilden. Dann wendet man Methoden des maschinellen Lernens an, um Klassifikatoren zu finden, die die Texte, die zu unterschiedlichen Klassen gehören, voneinander unterscheiden.

Es gibt aber auch eine Reihe von Problemen, die sich nicht mit den Standardverfahren maschinellen Lernens lösen lassen und bei denen die Autorenidentifikation noch nicht so erfolgreich ist:

  1. Das Verifikationsproblem: Es gibt kein geschlossenes Set an Kandidaten, aber einen Verdächtigen. Ziel ist es, Kriterien dafür zu finden, ob der Verdächtige der Autor ist oder nicht. Im Prinzip handelt es sich hier um ein Klassifikationsproblem mit nur einer Klasse – unschön!
  2. Das Nadel-im-Heuhaufen-Problem: Es gibt eine große Anzhal von Kandiadten von denen nur kleine Trainingskorpora zur Verfügung stehen. Wegen der großen Anzahl Kandidaten (und damit Klassen) können hier (noch) keine Lern-Modelle eingesetzt werden.
  3. Das Profiling-Problem: Es gibt keine Trainingskorpora, anhand derer wir Kandidatenprofile errechnen können; Ziel ist dann, möglichst viel über die Eigenschaften des Autors herauszufinden. Insbesondere Geschlecht, Muttersprache und Alter, aber auch charakterliche Grundeigenschaften sind Gegenstand der Analysen.

Dennoch ist die Klassifikation mittels Methoden maschinellen Lernens eine zentrale Technik bei der Autorenidentifizierung, aber auch in anderen Bereichen. Diese Methoden sollen im Blog nach und nach vorgestellt werden.


Metasprachliche markierte Ausdrücke in der ZEIT im Jahr 2011 und eine kleine Geschichte der BRD in Wörtern

Posted on 6th Januar 2012 in Allgemein, Linguistische Kategorien, Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

im vorletzten Post habe ich die Möglichkeit diskutiert, mittels metasprachlich markierter Ausdrücke Ideologien zu identifizieren, die von der herrschenden Semantik abweichen. Auch der publizistische Mainstream markiert Wörter oder Ausdrücke durch Anführungszeichen oder ein vorangestelltes „sogenannt“, wenn auch seltener. In Zeitungen werden vor allem neue, missverständliche oder inhaltlich umstrittene Ausdrücke markiert. Die folgende Wortwolke zeigt, welche Ausdrücke in der gedruckten ZEIT im Jahr 2011 markiert wurden:



Metasprachlich markierte Ausdrücke in der ZEIT (print) 2011



An der Wortwolke werden vor allem die wichtigsten Themen des Jahres sichtbar: Euro-Rettung, Terrorismus (Schuhbomber, Rucksackbomber, Kofferbomber und für uns Freunde der Sicherheit besonders interessant: Unterhosenbomber), arabischer Frühling, Atomkraft (Brückentechnologie, Restrisiko, Liquidator, Fukushima, Energiewende), Protestbewegungen (Wutbürgertum, Plärrer, Empörte) und Selbstverteidigungsminister KT. Es finden sich auch einige Klassiker: „drittes Reich“ und „Führer“ werden in den meisten Medien aus gutem Grund immer in Anführungszeichen gesetzt. Natürlich findet sich auch „alternativlos“ als Unwort des Jahres in der Liste.

Ich habe auch für die anderen Jahrgänge der Zeit solche wordclouds berechnet. In der Gesamtschau erhält man eine kleine Geschichte der Bundesrepublik und ihrer gesellschaftlichen Debatten in einer Liste von Wörtern.

Als Lesehilfe: Je häufiger ein Ausdruck markiert wurde, desto größer wird er dargestellt. In einem Jahr zum ersten mal als markiert auftretende Ausdrücke sind rot, im Vergleich zu den anderen Jahren signifikant häufig auftretende Ausdrücke sind braun gefärbt.





Interessant ist, dass in Jahren von Krisen und Umbrüchen besonders viele Ausdrücke metasprachlich markiert werden. Die Jahre 1966-1969, 1977, 1989/90 sind dafür ein Beleg. Zieht man den Anstieg der Markierungen im Jahr 2011 im Vergleich zu den Jahren vorher in Betracht, dann muss die Diagnose heißen: wir erleben zurzeit einen Umbruch, der den großen Krisenjahren der BRD vergleichbar ist.


Anmerkung: Eine Filterung der Listen war nötig, da insbesondere Buch- oder Filmtitel auch in Anführungszeichen gesetzt werden. Dies wurde mit Hilfe einer Stoppliste automatisiert, eine Nachbearbeitung von Hand war dennoch nötig.

Für bessere Lesbarkeit: jenseits des Blog-Layouts habe ich noch eine schlichte HTML-Seite gemacht.


Postprivacy und Kommune: Heilsversprechen mit Tendenz zum Totalen

Posted on 10th Dezember 2011 in Überwachung und Sicherheit

Wer einen Paradigmenwechsel erfolgreich herbeiführen will, der muss Traditionen für sich vereinnahmen. Das Neue, für das man eintritt, erscheint den Kritikern nämlich dann nicht mehr ganz so schlimm, wenn man darauf verweisen kann, dass es schon früher etwas Ähnliches gegeben hat, besonders dann, wenn die Tradition, auf die man sich beruft, positiv besetzt ist. Die deutsche Postprivacy-Bewegung stellt sich nun in die Tradition der Kommunebewegung der späten 1960er Jahr. Rainer Langhans sollte auf der 0. Spackeriade die Keynote halten, darf nun aber nicht.

Lebensstil-Politik

Dabei hätte das durchaus Charme gehabt: Die Mitglieder der Kommune I, allen voran Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann waren die Popstars der 68er-Bewegung. Sie kleideten sich bunt, pflegten einen ostentativen Hedonismus und ernteten mit ihren Spaßguerilla-Aktionen viel Aufmerksamkeit. Indem die linksintellektuellen Politaktivisten die Kommunarden als Politclowns marginalisierten, erwiesen sie sich als blind gegenüber der politischen Dimension und der gesellschaftlichen Sprengkraft dieses Lebensstils. Während Dutschke und andere SDS-Größen im Politikteil der Gazetten verhandelt wurden, belebte die Kommune I das Boulevard mit Homestories aus dem Kommunealltag und Geschichten über ihre Sexualität. Wie ihre Aktionen, so waren auch ihre Interviews wohl kalkulierte Ereignisinszenierungen im medientauglichen Format. Und das Boulevard dankte es ihnen mit Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die es der Kommune ermöglichte, ihren expressiven Lebensstil über die Zentren des Protests hinaus bekannt zu machen. Dieser Lebensstil war eine Schnittstelle zwischen politischem Protest und jugendlicher Popkultur und damit ein wichtiger Katalysator für die Entstehung eines gegenkulturellen Milieus, dessen Angehörige viele gesellschaftliche Innovationen initiiert haben.

Diese Lebensstilpolitik hat der Kommune I natürlich viel Kritik eingebracht von jenen, die glaubten, Politisieren sei ein ernstes Geschäft, in dem man andere Menschen mit Argumenten überzeugen müsse. Auch die Spackeria erntet derzeit viel Kritik für ihre postprivatistischen Ideen und stilisiert sich zugleich zu einer Avantgarde, die sich weniger über Theorien definiert, sondern über ihren Lebensstil. Die Gemeinsamkeiten gehen jedoch tiefer.

Kommune und Postprivacy: das Ende der Privatheit

Anschlussfähig für die Post-Privacy-Bewegung ist der Umgang der Kommunebewegung mit dem Privaten. Die Kommune I wurde nach Dieter Kunzelmann aus der Einsicht heraus gegründet, dass eine Organisation, die „die Gesellschaft in Richtung auf eine anti-autoritäre, egalitäre, anti-private Struktur ändern will, sich selbst anti-autoritär und anti-privat organisieren muß.“ (zitiert in Koplin 1968: 48). Von der Kommune I wird kolportiert, sie habe die Toilettentüren ausgehängt, damit ihre Mitglieder sich niemals der Gruppe entziehen könnten. Tatsächlich hat man wohl nur darauf bestanden, dass Zimmertüren offen bleiben sollten, obwohl auch hier Ausnahmen geduldet wurden. Die Linkeckkommune hatte sich darauf geeinigt, dass jeder das Recht habe, jederzeit jedes Zimmer zu betreten. Neben der Verhinderung von Vereinzelungen, sollte auch private Kommunikation nicht mehr möglich sein. Rainer Langhans hat mir erzählt, er hätte einen Lautsprecher ins Telefon eingebaut, damit die Mitbewohner immer das volle Gespräch mithören konnten, wenn jemand anrief. Während die Kommune I ihr Innenleben vor allem über die Presse nach außen trug, veröffentlichten andere Bücher: Hartmut Sanders und Ulrich Christians‘ „Subkultur Berlin“ enthielt lange Tonbandprotokolle von Gespräche der Linkeck-Kommune, Rolf-Ulrich Kaiser druckte 1970 in „Fabrikbewohner“ Alltagsgespräche aus der Kommune X (auch Kommune 99 / Horla-Kommune) nach und der 1969 erschienene Bericht über den „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ der Kommune 2 bestand vorwiegend aus Protokollen aus dem Alltagsleben der Kommunemitglieder.



Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2

Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2



Eschatologische Dimensionen

Die Entäußerung des Privaten — das deutet der Titel des K2-Buches an — geschah nicht aus der puren Lust am Exhibitionismus. Er folgte einem eschatologischen Programm: Es ging um nichts weniger als um die Schaffung eines neuen Menschen, der frei sein würde von den Zwängen bürgerlicher Existenz: „Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Phantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in der revolutionierten Gesellschaft ist.“ (Kommune 2 1969: 70.) Auch hier zeigen sich Parallelen zur Post-privacy-Bewegung. Deren Utopie einer Ethik des Teilens und der Offenheit, die völlig neue Formen des Miteinanders hervorbringe, oder zur Unsterblichkeit durch Mindupload haben ebenfalls den Charakter einer Heilslehre. Heilbringendes Medium für die Postprivatisten ist die uneingeschränkte Kommunikation. Und auch das verbindet sie mit der Kommunebewegung.

Jeder muss alles sagen

Vergemeinschaftendes Herz der Kommunen der Frühzeit nämlich war das Gespräch. Nicht das zufällige Gespräch am Küchentisch, sondern das Gespräch mit rituellem Charakter: häufig eröffnet vom Schwellenritual des kreisenden Joint diskutierte man zu festen Zeiten mit stetig wiederkehrenden Sequenzmustern die Probleme des Zusammenlebens als Symptome für die mangelhafte Revolutionierung der Einzelnen.

In allen Kommunen bestand ein informeller Zwang zur Teilnahme an diesen Gesprächen. So war es der einzige verbindliche Grundsatz der Kommune 2, „über alle auftauchenden Probleme gemeinsam zu sprechen.“ (Kommune 2 1969: 46) Nicht nur musste jedes Kommunemitglied zeitweilig Gegenstand des Gesprächs werden, es war auch so, dass sich jedes Mitglied in das Gespräch einbringen musste. Die Ablehnung eines Gesprächsthemas, Passivität und bloßes Zuhören waren nicht gestattet. So forderte Hans-Joachim Hameister in einer Diskussion der Kommune I am 22.3.1967, deren Protokoll nur in einer lückenhaften polizeilichen Abschrift überliefert ist: „jeder muß seine individuelle Situation auf den allgemeinen Stand bringen, Schweiger müssen reden u. warten nicht mehr darauf, daß ihr Problem verhandelt wird […]. Diskussion heißt nicht mehr aufgesucht u. aufgefunden zu werden wie in der bürgerlichen Kommunikation“. Wer nicht mitmachte, flog raus: In der Kommune 2 weigerten sich Jörg und Lisbeth ihre Beziehungsprobleme vor dem Kollektiv auszubreiten — sie mussten die Kommune verlassen, denn sie hatten den „einzigen Kommune-Grundsatz angegriffen“ (Kommune 2 1969: 46).

Die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe

Konstitutiv für das Gemeinschaftsleben war zudem, dass alle Entscheidungen in den Kommunen nach ausführlicher Diskussion nach dem Konsensprinzip getroffen werden und verbindlich sein sollten. Dies konnte so weit gehen, dass — wie in der Kommune I geschehen — die Mitglieder nach eingehender Diskussion zu dem Ergebnis kamen, dass eine schwangere Kommunardin ihr Kind abtreiben lassen sollte. Die Mitglieder der Kommunen empfanden die Gespräche als „Psychoterrorsitzungen“ (Przytulla 2002: 206), bei denen der psychische Zusammenbruch durchaus erwünscht war und zum Ritual des Reihengesprächs gehörte. Das belegt sogar eine Bemerkung Fritz Teufels, die sich in den Protokollen der Kommune I findet: „Zusammenbrüche produzierten eine Spannung, die nicht mehr zu ertragen war u. die Zusammenbrüche waren keine selbsttätigen, sondern Pflichtübungen den Autoritäten gegenüber. Autorität gleich Gruppenautorität.“

Die Kommunen verlangten also nichts weniger als die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe. Der zunächst rein formale Zwang zur Teilnahme am Gespräch entfaltete Geltungsansprüche, die tief in die Freiheit der Einzelnen eingriffen und ins Totale spielen konnten. Nicht individuelle Entfaltung sondern Disziplinierung im Sinne der Gruppe waren das Ergebnis.

Postprivacy und Kommune

Und hier liegt die Pointe der ganzen Geschichte: Auch die Anhänger der Post-privacy-Ideologie erheben die rein formalen Forderung, keiner möge der Veröffentlichung von Daten im Wege stehen, und verbinden damit die vage Hoffnung auf eine Potenzierung individueller und gesellschaftlicher Möglichkeiten. Die Konsequenz aber, das ist aus den Kommuneexperimenten zu lernen, ist nicht ein höheres Maß an Freiheit, sondern eine Ausweitung der Geltungsansprüche der Vielen auf jeden Einzelnen und damit eine Einschränkung des Möglichkeitsraums.

Im Artikel „Kommunarden über sich selbst“ in der konkret vom 7.10.1968 kritisiert ein Mitglied der Kommune 99 die postprivatistische Lebensweise: „Die K I hat in der Fabrik, wo sie jetzt wohnen, einen einzigen Raum, in dem sie alle zusammen leben. Ich stelle mir das fürchterlich vor. Wie willst du dich da zurückziehen? Ich halte es doch für sehr wichtig, daß man auch ein bißchen Privatleben hat. Man kann nicht so ausgerichtet sein, daß alles Individuelle verlorengeht. Im Gegenteil: Individuelle Eigenarten müssen gefördert werden.“


[Persönliche Nachbemerkung: Mit Rainer Langhans kann man reden und er kann sogar zuhören. Seine Ausladung finde ich daher bedauerlich.]



Literatur:

  • Kaiser, Rolf-Ulrich (1970): Fabrikbewohner: Protokoll einer Kommune und 23 Trips. Düsseldorf: Droste.
  • Kommune 2 (1969): Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin: Oberbaum Presse.
  • Mein, Wolf / Wegen, Lisa (1971): Die Pop-Kommune: Dokumentation über Theorie und Praxis einer neuen Form des Zusammenlebens. München: Heyne.
  • Peinemann, Steve B. (1975): Wohngemeinschaft. Problem oder Lösung?. Frankfurt am Main: Verlag Rieta Hau.
  • Przytulla, Dagmar (2002): „Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren“. In: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, hg. v. Ute Kätzel, Berlin: Rowohlt Berlin, S. 201–219.
  • Sander, Hartmut / Christians, Ulrich (1969): Subkultur Berlin. Darmstadt: März-Verlag.

Mein Buch zur Bedeutung der 68er-Bewegung für die Kulturggeschichte der BRD:


Scharloth, Joachim (2011): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. Paderborn: Fink.


Erkennung von Ideologien: Metasprachliche Markierungen als Kritik der herrschenden Semantik

Liebe Freunde der Sicherheit,

heute soll es nicht um Autorenerkennung gehen, sondern um die Frage, wie man den ideologischen Gehalt größerer Textmengen bestimmen kann. Illustrieren möchte ich dies an einem Thema, das uns besonders am Herzen liegt: die Treue zu unserer staatlich-politischen Grundordnung.

Systemkritische Bewegungen haben fast immer auch eine sprachkritische Tendenz. Ähnlich wie antipluralistische Systeme neigen sie zur Ausbildung einer eigenen Ideologiesprache, die zwar nicht notwendigerweise ausdrucksseitig (also im Hinblick auf die verwendeten Wörter und Wendungen), aber immer inhaltsseitig vom herrschenden Sprachgebrauch abweicht. Und dies mit gutem Grund: die herrschende Sprache – so die Vorstellung – habe verschleiernden Charakter und diene der herrschenden Klasse zur Gefügigmachung der Bürger, mithin als Herrschaftsinstrument.

Wahres Sprechen erfordert daher eine neue Sprache – so die an ontologisierende Sprachtheorien erinnernde Position. Selten kommen daher sich als revolutionär verstehende Bewegungen ohne kritische Thematisierungen der gegenwärtigen Sprache aus, bisweilen arbeiten sie sogar sprachliche Gegenentwürfe aus.

Letzteres geschieht häufig in Textsorten, die Wörterbüchern ähnlich sind. Beispielsweise findet sich im Netz ein rechtsextremes Elaborat, das eine Liste mit 126 zentralen Vokabeln aus den semantischen Feldern der Staatstheorie, der Philosophie, der Theologie und der „Rassenkunde“ enthält, die im Sinne der Autoren abweichend vom Alltagssprachgebrauch definiert werden. „Diskriminierung“ wird darin beispielsweise wie folgt bestimmt: „Kulturtugend. Abgrenzung (gegeneinander), Unterscheidung des Häßlichen vom Schönen, des Bösen vom Guten, des Falschen vom Wahren, des Schädlichen vom Nützlichen. Die Diskriminierung ist die grundlegende Fähigkeit, die menschliches Handeln auf den Gebieten der Kunst, der Religion, des Wissens, der Wirtschaft und der staatlichen wie bürgerlichen Ordnung der Gemeinwesen erst ermöglicht.“ Die Definition bezieht sich auf die Bedeutung des lateinischen Verbs „discriminare“, in der das Wort auch ins Deutsche entlehnt wurde. Die Bedeutungsdimensionen der Herabsetzung und der Benachteiligung, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Verwendung des Wortes prägen, werden getilgt.

Die Existenz solcher wörterbuchartigen Umdeutungen von Begriffen ist Symptom einer elaborierten und systematischen Kritik der „herrschenden“ Semantik. Häufiger jedoch findet sich in systemkritischen Texten eine eher unsystematische Ad-hoc-Kritik am gängigen Sprachgebrauch, indem die entsprechenden Ausdrücke metasprachlich markiert werden. Damit wird die Ablehnung der traditionellen Verwendungsweise der markierten Vokabeln zum Ausdruck gebracht. Diese Ablehnung kann sich entweder gegen die Wortform selbst oder gegen das Konzept, das dem Ausdruck zugrunde liegt, richten. Ein rechtskonservativer Politiker übt beispielsweise mit der Formulierung „Einwohner mit ‚Migrationshintergrund'“ Kritik an der in Anführungszeichen gesetzten Wortform und drückt damit aus, dass diese nicht Teil seines persönlichen politischen Vokabulars ist. Kritik am Konzept, das hinter einem Ausdruck steht, wird etwa geübt, wenn von der „sogenannten Demokratie“ die Rede ist. Solche Sprachthematisierungen haben eine strategische Funktion. Daneben gibt es natürlich noch weitere Sprachthematisierungen, die ausschließlich erläuternden Charakter besitzen. Hier werden Wörter definiert, erklärt, oder es wird ihr Gebrauch legitimiert.

Sprachkritische Markierungen bieten somit einen Ansatzpunkt für die informatische Operationalisierung von Einstellungen gegenüber der herrschenden Ordnung, insofern sie als Indikatoren der Kritik an zentralen politischen Konzepten und der herrschenden Semantik insgesamt gedeutet werden können.

Um zu überprüfen, ob die linguistische Kategorie der metasprachlichen Markierung als Indikator für Distanz zur herrschenden Semantik und damit als Marker systemkritischer Gesinnung gelten kann, habe ich zusammen mit Kollegen ein paar Proberechnungen an den Pressemitteilungen der Bundesparteien in der Legislaturperiode von 2005-2009 vorgenommen. Im Folgenden findet ihr die Frequenz von metasprachlichen Markierungen je 10.000 Wörtern (SPD und CDU stehen hier deshalb neben einander, weil sie eine Koalition bildeten; PDL-KPF steht für die Kommunistische Plattform innerhalb der Partei DIE LINKE.).

 


Anzahl metasprachlich markierter Ausdrücke je 10.000 Wörter in den Pressemitteilungen von Parteien (2005-2009)

Anzahl metasprachlich markierter Ausdrücke je 10.000 Wörter
in den Pressemitteilungen von Parteien (2005-2009)



Die Parteien und Gruppierungen an den Rändern des politischen Spektrum weisen eine höhere Frequenz metasprachlicher Markierungen auf als die im Bundestag vertretenen Parteien. Während bei letzteren der Höchstwert bei rund 20 Sprachthematisierungen je 10.000 Wörtern liegt (CDU), liegt er bei den anderen Parteien, die vom Verfassungsschutz überwiegend als extremistisch bezeichnet werden, zwischen rund 33 (MLPD) und 80 (DKP).

Auch eine qualitative Auswertung der metasprachlichen Ausdrücke, die in den Pressemitteilungen auftreten, bestätigt, dass die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums ihre Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit sprachlichen Mitteln explizit machen. Die folgende Abbildung zeigt den Anteil der metasprachlich markierten Ausdrücke zur Bezeichnung von Institutionen beziehungsweise Grundwerten des demokratischen Verfassungsstaates an allen metasprachlicher Markierungen.

 


Anteil von Wendungen zur Bezeichnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Organe an allen metasprachlich markierten Ausdrücken (Pressemitteilungen von Parteien 2005-2009)

Anteil von Wendungen zur Bezeichnung des demokratischen Verfassungsstaates
und seiner Organe an allen metasprachlich markierten Ausdrücken
(Pressemitteilungen von Parteien 2005-2009)



Insbesondere bei den rechtsextremen Parteien, aber auch bei der MLPD findet sich demnach ein vergleichsweise hoher Anteil antipluralistisch intendierter metasprachlicher Markierungen. Zwar liegt der Wert bei den Grünen auch vergleichsweise hoch, allerdings ist die Frequenz metasprachlicher Markierungen bei den Grünen insgesamt derart gering, dass die 3,2 % markierter Ausdrücke, die Grundwerte und Institutionen des Verfassungsstaates bezeichnen, nicht ins Gewicht fallen.

Es scheint also, als seien Quantität und Qualität metasprachlich markierter Ausdrücke ein Indikator für eine kritische Haltung gegenüber der herrschenden politischen Ordnung. Allerdings muss ich noch ergänzen: bei Diskussionsforen ist die explorative Kraft metasprachlicher Markierungen viel geringer. Ein weiterer Beleg dafür, wie zentral die Kategorie Textsorte für die automatisierte Sprachanalyse ist.

Ach so, eins noch: klar werden hier Parteien vergleichen und einige gelten dem Verfassungsschutz als links- und andere als rechtsextrem. Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, dass das Vergleichen ein Gleichsetzen ist.


Von Black Panther zu Pink Panther? — Zur Ikonographie des Terrors

Posted on 17th November 2011 in Extremismus, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

Die Presse rätselt, warum sich die Terroristen, die sich als Nationalsozialistischer Untergrund bezeichnen, ausgerechnet Paulchen Panther zu ihrem Maskottchen wählten. Bernd Wagner von Exit Deutschland gibt sich im Stern-Interview ratlos, der Zürcher Tagesanzeiger rätselt und klärt darüber auf, dass der rosarote Panther nicht im kriminellen Milieu wurzelt.
Und in der BILD-Zeitung darf Professor Dr. Hajo Funke, Politikwissenschaftler vom Otto-Suhr-Institut in Berlin, erklären: „Das muss kein Zeichen für die Öffentlichkeit sein: In der Nazi-Szene gibt es auch eine innere Propaganda. Möglicherweise hatten Paulchen-Witze in dieser Gruppe einen Kultstatus für Insider.“

Eine Blick in die Geschichte der Terror-Ikonographie legt jedoch eine andere Interpretation nahe: Der Panther wurde beispielsweise von der Black Panther Party, einer sich als revolutionär verstehenden militanten Gruppe innerhalb der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, benutzt.



Logo der Black Panther Party

Logo der Black Panther Party



Er zierte auch den ersten programmatischen Text der RAF „Die Rote Armee aufbauen“ in der Zeitschrift agit 883.



Titelei des Textes "Die Rote Armee aufbauen" aus agit883, Nr. 62 vom 05.06.1970

Titelei des Textes "Die Rote Armee aufbauen" aus agit883, Nr. 62 vom 05.06.1970



Und sogar Feminstinnen bedienten sich des Panthers zur Artikulation ihrer Bereitschaft zur Militanz.



"Die Militanten Pantertanten:" zweite Hälfte 1969



Der Panther steht also für revolutionäre Gewalt. Dass sich die Terroristen der NSU nicht wie die RAF mit der Black Panther-Bewegung identifizierten ist evident. Der schwarze Panther, in dessen Farbe und geschmeidiger Kraft sich die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung wiedererkennen sollte, passt nicht zu ihren rassistischen Anliegen.



Aus agit883 Nr. 64 vom 25.6.1970



Was liegt für eine Neonazigruppe, deren Ideologie auf rassischem Denken beruht, näher, als statt eines schwarzen Panthers einen rosaroten Panther zum Logo zu wählen, um einen ikonographischen Kontrapunkt zu setzen? Und hätte der Chef der NPD in Zwickau, der Paulchen Panther als Alias bei Facebook benutzte, wirklich auch Fix und Foxi wählen können, wie er SPIEGEL Online sagte?



Screenshot aus dem Bekennervideo des NSU



„Extremismus“ zwischen Deskription und Performanz

Posted on 7th November 2011 in Extremismus, Politik, Überwachung und Sicherheit

Liebe Freunde der Sicherheit,

ich habe mich in der letzten Zeit um die Sicherheit der japanischen Renten verdient gemacht, daher war hier Funkstille. Das soll sich nun aber wieder ändern. Heute ein kleiner Überblick über die Debatte um den Extremismusbegriff. Seine Anwendung bietet in Deutschland die Grundlage dafür, ob das Bundesamt für Verfassungsschutz Personen oder Gruppen beobachten darf. Während in anderen Ländern vor allem der Verdacht des Terrorismus staatliche Zuwendung beschert, betrachtet man Terrorismus in Deutschland in den meisten Fällen als Sonderfall des Extremismus.

„Extremismus“ als Terminus aus der Verwaltungssprache

„Extrem“ ist ein relationaler Begriff: Seine Bedeutung ergibt sich nur aus der Beziehung zu anderen Positionen. Das „Extreme“ bezeichnet die äußerste Abweichung oder den äußersten Gegensatz zu diesem Anderen. Der Begriff des politischen Extremismus ist ein Begriff, der nicht nur in der Forschung verwendet wird. Er findet Verwendung auch in der Arbeit jener Behörden, die – dem Gründungskonsens der Bundesrepublik folgend – den Schutz der Verfassung durch Sammlung von Informationen über jene zu ihrem Auftrag haben, die aggressiv und planvoll an der Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung arbeiten. Der Begriff des Extremismus ist damit ein Begriff aus der Verwaltungspraxis, ein Begriff mit handlungsorientierender Funktion. Er erhält seine Bedeutung aus der Rechtsprechungstradition des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts und der Verfassungs- und Verwaltungsgerichte der Länder. Aber auch die Praxis von Staatsanwaltschaften und Gerichten, der Innenministerien von Bund und Ländern sowie die Aktivitäten der ihnen unterstellten Polizei und vor allem der Verfassungsschutzämter (Neugebauer 2001: 14) tragen dazu bei, dem Begriff seine jeweils aktuelle Bedeutung zu geben. Wann der Verfassungsschutz tätig werden darf, ist in § 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes geregelt, wo es heißt:

(1) Im Sinne dieses Gesetzes sind
a) Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder eines Landes solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen;
b) Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Landes solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, den Bund, Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen;
c) Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß, der darauf gerichtet ist, einen der in Absatz 2 genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.
(§4 Abs. 1 BverfSchG.)

Als Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zählt Absatz 2 die folgenden Verfassungsgrundsätze auf:

a) das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen,
b) die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht,
c) das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition,
d) die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung,
e) die Unabhängigkeit der Gerichte,
f) der Ausschluß jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und
g) die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte.
(§4 Abs. 2 BverfSchG.)

Extremistisch im Sinne des Verfassungsschutzgesetzes sind damit jene Bestrebungen, die auf die Beseitigung oder Einschränkung der Prinzipien von parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Gewaltenteilung und Menschenrechten gerichtet sind. Organisationen, deren Ziele als extremistisch eingestuft werden, werden von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet mit dem Ziel, gegebenenfalls gerichtsverwertbare Materialien zu sammeln, die Exekutivmaßnahmen rechtfertigen.

Extremismusbegriff der Politikwissenschaft

Auch in der Politikwissenschaft wird der Extremismusbegriff von einer Schule von Politikwissenschaftlern in Abgrenzung zum Begriff des demokratischen Verfassungsstaates verwendet. So definieren Uwe Backes und Eckhard Jesse (1996: 45):

Der Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß jede Form von Staatlichkeit als „repressiv“ gilt (Anarchismus).

Auch wenn die Definition als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Extremismen lediglich die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates nennt, tragen Backes und Jesse doch folgende weitere „strukturelle Gemeinsamkeiten extremistischer Doktrinen“ (Backes/Jesse 1996: 58) zusammen:

(1) Intoleranz gegenüber „abweichenden“ Auffassungen sowie mangelnde Kompromissfähigkeit und -bereitschaft
(2) Pluralismus der Meinungen wird mit dem Hinweis auf die eine „wahre“ Lehre abgelehnt
(3) die absolute Gewissheit, im Recht zu sein, und die Überzeugung von der absoluten Gültigkeit der eigenen Visionen
(4) Missionsbewusstsein
(5) Geheimbündelei
(6) Verschwörungstheorien: Massenmedien sind Instrumente der Meinungsmanipulation, die Parteien sind Spielbälle der Interessenverbände
(7) Fanatismus: Bereitschaft zur gewaltsamen Propagierung und Durchsetzung der erstrebten Ziele

Der von staatlichen Behörden und Teilen der Politikwissenschaft formulierte Extremismusbegriff ist ein normativer. Er ist an den Werten des demokratischen Verfassungsstaates orientiert. Die deontische Dimension des Begriffs beinhaltet, dass der Extremismus etwas ist, das beobachtet und gegen das gegebenenfalls vorgegangen werden sollte. Der Extremismusbegriff ist damit auch ein Ausgrenzungsbegriff, denn er setzt eine Grenze zwischen legaler und illegaler politischer Betätigung.

Kritik am Extremismusbegriff

An diesem Extremismusbegriff wird Kritik geübt, sowohl von politikwissenschaftlicher Seite als auch von politisch Betroffenen. Als Beispiel für letztere sei hier ein Text mit dem Titel „Rechts ist nicht links – Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes“ (Jelpke 2009) der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke von der Partei Die Linke angeführt. Jelpke, der politische Kontakte zu in Deutschland als terroristische Vereinigung verbotenen Gruppierungen vorgehalten werden, wirft den Vertretern des Extremismusansatzes vor, „die inhaltlichen Unterschiede zwischen der radikalen Linken und einer extremen Rechten nivellieren und somit die Linke durch die begriffliche Gleichsetzung mit der extremen Rechten diskreditieren [zu wollen]“. Der Extremismusbegriff solle die politische Mitte unabhängig von den in ihr vertretenen Inhalten legitimieren und alle Abweichungen von dieser Mitte ausgrenzen. Dadurch definiere der Extremismusbegriff einen legalen politischen Raum (die Mitte) und stelle alle abweichenden politischen Vorstellungen unter den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit. Diese Definition der legitimen Mitte erfolge jedoch nicht inhaltlich, etwa entlang der Grundwerte der Verfassung, sondern rein formal, das heißt gemäß dem Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, zu der nach herrschender Auffassung auch das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik gehöre. Jelpke sieht also im Extremismusbegriff eine antipluralistische Strategie und ein Herrschaftsinstrument der politischen Mitte. Zur Kritik am Extremismusbegriff aus politischer Perspektive kann man auch bei Jennerjahn (2010) und Kausch (2010) nachlesen.

Aus politikwissenschaftlicher Sicht konstatiert Gero Neugebauer (2001, 2010), dass sich keine nennenswerte empirische Forschungslinie, die die Gemeinsamkeiten von Links- und Rechtsextremismus untersucht, gebildet habe. Vielmehr beobachtet er, dass der Extremismusbegriff für Forschung zu rechtsextremen, jedoch praktisch überhaupt nicht für Forschung zu linksextremen Gruppierungen und Denkweisen verwendet werde. Diese Einseitigkeit verdanke sich seiner normativen Fundierung. Zwar räumt auch Neugebauer die Existenz von Gemeinsamkeiten ein, jedoch seien diese lediglich auf der Phänomen- oder Symptom-Ebene zu finden. Inhaltlich seien die Unterschiede zwischen Links- und Rechtsextremismus aber zu groß, als dass eine theoretische Reduzierung auf einen Begriff angemessen sei. Ohne wie Backes und Jesse eine präzise Bestimmung des Demokratiebegriffs vorzunehmen, konstatiert er, dass der Linksextremismus zwar antikapitalistisch, nicht aber antidemokratisch sei, der Rechtsextremismus hingegen stets antidemokratisch. Diese Kritik verweist auf ein tiefer liegendes Problem mit dem Extremismusbegriff: Er referiert auf das Links-Rechts-Schema, das – folgt man Neugebauers Ausführungen weiter – alltagsweltlich zwar eine sinnvolle Vereinfachung komplexer Sachverhalte sein könne, aber für wissenschaftliche Zwecke wegen seiner Unbestimmtheit keinen großen heuristischen Nutzen habe. Daher plädiert Neugebauer dafür, die Eindimensionalität des Extremismusbegriffs durch einen mehrdimensionalen Werteraum zu ersetzen.

Extremismus der Mitte

Schließlich gibt es in der Forschung zum historischen Faschismus noch die These von der Existenz eines Extremismus der Mitte. Lipset (1981) etwa führt den Siegeszug des Faschismus in den 1930er Jahren darauf zurück, dass die politische Mitte mit extremistischem Gedankengut infiziert war. Dass es weiterhin einen Extremismus der Mitte gibt, ist heute ein beliebtes Argument derer, die sich an den vermeintlichen politischen Rändern tummeln, um den Vorwurf des Extremismus von sich zu weisen.

Die deontische Dimension des Extremismusbegriffs

Extremismus ist ein Begriff, der fast ausschließlich zur Bezeichnung kritikwürdiger Sachverhalte, Menschen und Gruppen verwendet wird. Daher ist die Verleihung des Labels „extremistisch“ auch kein rein deskriptiver Akt, sondern hat eine performative Dimension. Interessant ist, was mit Gruppen oder Menschen geschieht, denen extremistisches Denken vorgeworfen wird: Oft radikalisieren sie sich nämlich. Der Extremismusbegriff zieht eine Linie zwischen ihnen und dem Rest der Gesellschaft. Sie fühlen sich als Opfer von Ausgrenzung und beginnen mit anderen (vermeintlichen) Opfern dieser Ausgrenzung zu sympathisieren und finden nicht selten in ihnen ihre neuen Verbündeten. Der Staat, der diese Ausgrenzung autorisiert, erscheint noch kritikwürdiger als zuvor. Wer des Extremismus verdächtigt wird, der neigt häufiger dazu, sein wahres Denken zu verschleiern oder gar sich klandestin zu verhalten. So hat der Extremismusbegriff das Potenzial, sich seinen Gegenstand selbst zu schaffen. Aber natürlich wäre es idiotisch, jede Radikalisierung der bloßen Existenz eines Extremismusbegriffs in die Schuhe zu schieben.


Zum Weiterlesen:

  • Backes, Uwe (1998): Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Backes, Uwe / Eckhard Jesse (1996): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • Jaschke, Hans-Gerd (2006): Politischer Extremismus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
    Jelpke, Ulla (2009): Rechts ist nicht links – Hintergrund und politische Funktion des Extremismusansatzes. Online: http://www.ulla-jelpke.de/news_detail.php?newsid=1433
  • Jennerjahn, Miro (2010): „Der fächer des Bösen“. Anmerkungen aus politischer Perspektive. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 23-26.
  • Kausch, Stefan (2010): Ordnung. Macht. Extremismus – eine Alternativlosigkeit? Über die Gesellschaft der „guten Mitte“ und alternative Politik- und Analyseperspektiven. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 31-44.
  • Lipset, Seymour Martin (1981): ‚Fascism‘ – Left, Right, and Center. In: Political Man: The Social Bases of Politics. Baltimore: Johns HopkinsUniversitas Press. 127–152.
  • Neugebauer, Gero (2001): Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen. In: Wilfried Schubarth / Richard Stöss (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz. Opladen: Leske und Budrich. S. 13-37 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 368).
  • Neugebauer, Gero (2010): Der Extremismusansatz aus wissenschaftlicher Sicht. In: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.) (2010): Gibt es Extremismus? Extremismusansatz und Extremismusbegriff in der Auseinandersetzung mit Neonazismus und (anti)demokratischen Einstellungen. Dresden: Druckhaus Dresden. S. 11-18.

 

Gibt es einen sprachlichen Fingerabdruck?

Liebe Freunde der Sicherheit,

oftmals sind sprachliche Spuren das einzige, was wir von vermeintlichen Täterinnen und Tätern haben. Besonders im Internet, wo Kriminelle ihre digitalen Identitäten trotz aller Bemühungen noch immer verschleiern können, sind die anonymen sprachlichen Äußerungen von Gefährdern oder geistigen Brandstiftern die einzige Möglichkeit, ihre wahre Identität aufzudecken.

So wie ein Einbrecher bei seinen Untaten Fingerabdrücke hinterlässt, so wie ein Vergewaltiger anhand seiner DNA-Spuren identifiziert werden kann, so können forensische Linguisten Täter anhand ihrer Sprache dingfest machen. So wie man durch den Abgleich von Fingerabdrücken und Zellresten mit einer Fingerabdruck- oder DNA-Datenbank einen Täter identifizieren kann, brauchen Sprachforensiker nur die sprachlichen Spuren des Täters am Tatort mit Texten abzugleichen, die einem Verdächtigen sicher zugeordnet werden können. Und wenn das sprachmaterial mit den Spuren übereinstimmen, dann klicken die Handschellen. Der sprachliche Fingerabdruck hat den Täter überführt.

So jedenfalls wollen uns so manche Informatiker glauben machen, die ihre Aufsätze mit so viel versprechenden Titeln wie „From Fingerprint to Writeprint“ betiteln. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich daran glauben oder ob es Teil einer Strategie ist, sich mehr Drittmittel einzuverleiben. Denn: einen sprachlichen Fingerabdruck gibt es nicht. Höchstens als irreführende Metapher.

Was ist ein Fingerabdruck?

Dazu muss man zunächst verstehen, was ein Fingerabdruck ist. Bei einem Fingerabdruck handelt es sich um eine Visualisierung der Papillarleisten am Endglied eines Fingers. Diese bilden offenbar abhängig von den Erbanlagen und von der Ernährung des ungeborenen Kindes eine individuelle Form aus, die sich im Laufe des Lebens nicht mehr oder kaum mehr verändert. Damit ein Fingerabdruck für eine computergestützte Forensik brauchbar ist, d.h. zum Beispiel in einer Datenbank erfasst und maschinell abgleichbar ist, wird ein Merkmalsset standardisiert erfasst. Die jeweilige Merkmalskombination gilt als einmalig.

Ähnlich verhält es sich mit dem sogenannten genetischen Fingerabdruck. Hier wird für forensische Zwecke keineswegs die gesamten Erbgutinformationen gespeichert und für einen Datenbankabgleich verfügbar gemacht. Vielmehr werden bestimmte Stellen in der DNA daraufhin untersucht, wie häufig an ihnen sogenannte short tandem repeats (STRs), also Wiederholungen von bestimmten Sequenzen vorkommen. Die variable Anzahl der Wiederholungen an diesen Punkten ergibt eine individuelles Profil, das einer Person zugeordnet werden und zu deren Identifizierung benutzt werden kann. Die DNA eines Menschen ist im Prinzip invariant und eignet sich daher gut, um Personen zu identifizieren.

Beide Verfahren beruhen also auf der Analyse messbarer Entitäten, die ihren Ursprung in biochemischen Prozessen haben, die sich einem unmittelbaren individuellen oder sozialen Einfluss entziehen.

Man könnte es sich nun leicht machen und sagen: Sprache ist im Gegensatz dazu etwas Soziales. Um verständlich kommunizieren zu können, müssen wir uns auf soziale Konventionen beziehen, auf übliche Verwendungsweisen von Wörtern (vulgo: Bedeutung) und auf Regeln, wie diese Wörter zu Sinneinheiten (vulgo: Grammatik) zusammengesetzt werden. Zudem kommunzieren wir auch nicht nur nach unseren Vorstellungen, sondern richten unsere Äußerungen auf unser intendiertes Publikum hin aus und konstruieren damit auch einen sozialen Kontext. Unseren Papillarleisten ist es aber egal, wem wir die Hand geben oder für wen wir Kaffee kochen. Sie sehen immer gleich aus. Wir treffen auch kontextabhängig keine Auswahl aus unserer DNA wie wir aus den in der Sprache möglichen Ausrucksweisen wählen, je nach dem, was wir gerade stilistisch für angemessen halten.

Abdruck wovon?

Aber so leicht würden es uns die Informatiker nicht machen. Sie würden vielleicht sagen, dass wir das Ontologisieren bleiben lassen sollten, denn abstrakt hätten wir es eben doch mit dem gleichen Problem zu tun: immer geht es darum, Merkmalsmuster zu finden, die als typisch für eine Person gelten sollen. Bei Papillarleisten oder der DNA kommen wir mit weniger Merkmalen aus als bei der Sprache, aber auch bei der Sprache ermöglicht die sprachliche Kompetenz und die Auswahl, die jeder Mensch aus den ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln trifft, die Erstellung eines individuellen Merkmalprofils. Und mal ehrlich: die short tandem repeats haben schon eine große Ähnlichkeit mit den n-Grammen aus der Linguistik.

Hier kommen wir aber nun an den Punkt, wo es sich lohnt über die Bedeutung des Wortes „Abdruck“ zu reflektieren. Während wir wissen, dass ein Fingerabdruck immer ein Abbild des einen betreffenden Fingers ist, dass die DNA in einer Zelle eine exakte Kopie der DNA aller anderer Zellen im Körper der betreffenden Person ist, so wissen wir überhaupt nicht, auf was eigentlich der sprachliche „Abdruck“ verweisen soll. Was drückt sich denn da ab, wenn wir schreiben?

Um von einem sprachlichen Fingerabdruck zu sprechen, müsste es etwas sein, das garantiert, dass beim nächsten Mal exakt das gleiche Muster wieder sichtbar wird. Das einzige, was mir als Linguist hier einfiele, ist die sprachliche Kompetenz. Aber gerade die ist nicht fest, sie wandelt sich ständig. Mit jedem Wort, das ich spreche, mit jedem Satz, den ich schreibe oder lese, aktualisiert sie sich. Und jede Aktualisierung ist eine (wenn auch kleine) Veränderung. Deshalb gibt es auch keinen sprachlichen Fingerabdruck: Es gibt kein festes Muster, an dem wir die Typizität einer Äußerung messen könnten.

Wir können lediglich Ähnlichkeiten zwischen Texten berechnen und mit Wahrscheinlichkeiten operieren. Mit der Evidenz eines Fingerabdrucks oder einer DNA-Spur hat das wenig zu tun. Und gegen gut gemachte sprachliche Maskeraden sind wir ohnehin machtlos.

 

IRC-Sprachforensik: „Psychological Profiles of Anonymous Leadership“ auf der Basis von Chatprotokollen

Liebe Freund der Sicherheit,

netzpolitik.org kommentiert die Tatsache, dass offenbar ein vom FBI verfasstes Profiling der führenden Köpfe von Anonymous geleakt ist. Sie stammt von der „Behavioral Science Unit“. Aus linguistischer Perspektive sind diese Profile insofern interessant, als sie ausschließlich aus der Analyse von chat logs, twitter logs und sonstigen Publikationen von Anonymous gewonnen wurden. Sprachkompetenz und Sprachgebrauch werden also zum Maßstab der Persönlichkeit.

Wenn man sich die Bewertungskategorien ansieht, dann zeigt sich, dass das die betreffenden Profiler FBI vorwiegend in den Kategorien der traditionellen forensischen Linguistik denken. Sie bewerten die sprachliche Performanz nach folgenden Kriterien:

  • Den souveränen Umgang mit einer sprachlichen Normen, insbesondere der Standardnorm des American English: über Sabu schreiben die Profiler „His use of netspeak is interspersed with proper American English diction and grammar that implies he is an American citizen and has been educated“ (3). Standardsprachenideologie in Reinform: die Beherrschung der Standardnorm ist eine kulturelle Leistung und zugleich ein Identitätsakt, denn Sprache schafft nationale Identität („Uns knüpft der Sprache heilig Band“). Zudem wird der Gebrauch der Standardnorm auch mit der Variable Alter korreliert.

  • Sprachliche Fehler bzw. Abweichungen von den Normen des American English: Über JoePie91 schreiben die Profiler „There are times when the syntax and grammar infer that JoePie is not an American and may in fact be in the EU.“ (5) Interessant ist, dass nicht die Frage diskutiert wird, ob er Muttersprachler oder Nichtmuttersprachler des Englischen ist.

  • Fachsprache: der Gebrauch von „netspeak“ und die Art ihres Gebrauchs: über JoePie91 schreiben die Profiler „He tends not to use as much netspeak as the others and makes relevant arguments in correct grammatical syntax.“ (5)

  • Die intraindividuelle Variation im Sprachgebrauch: eine zu starke Variation wird als mit einer kohärenten Persönlichkeit nicht vereinbar angesehen; daraus schließen die Profiler entweder mehrfachen Gebrauch eines Pseudonyms oder bewusste Verstellungsabsichten: so unterstellt man Sabu, er benutze netspeak, um sich als „script kiddie“ zu maskieren, weil er sonst durchaus in der Lage sei, grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden. Zugleich konstatiert man: „Varying logs from online IRC […] sessions have borne out the possibility however, that the user ID „Sabu“ is sometimes also used by others to confuse auhtorities and others as to who the real person is behind the keyboard.“ Die Hypothese wird jedoch mit dem Hinweis auf die Vielzahl letztlich doch kohärenter Dokumente zurückgewiesen.

Die Profiler lassen im Unklaren, ob sie quantitative Methoden benutzt haben. An einer Stelle schreiben sie über Sabu und die Möglichkeit der Nutzung seines Nicks durch unterschiedliche Personen: „through an amalgam of transcripts the tell tale signs of a consistent individual can be clearly seen and assessed.“ (3) Mit viel Fantasie könnte man hier den Gebrauch quantitativer Analysen hineinlesen. Ich habe aber eher den Eindruck, dass die Profiler die Texte vor allem mit nicht-maschinellen Mitteln analysiert haben.

Eine Datenbank mit IRC-Chats und Twitter-Logs, anhand derer Aussagen über die Spannbreite möglicher intraindividueller Variation möglich wären, stand ihnen offenbar nicht zu Verfügung. Geschweige denn eine Datenbank mit personenspezifischen Textkorpora, die eine Identifizierung der Real-Life-Identitäten ermöglichen würde.

Wenn ich ein Profil der Profiler erstellen sollte (nicht ganz ernst gemeint!): keine Linguisten, sondern Psychologen, die im Studium auch ein bisschen Sprachpsychologie gehört haben, und Soziologen. Der Gebrauch von Ausdrücken wie „slang“ und „diction“ verweist m.E. auf eine Generation, die mit Konzepten der neueren Soziolinguistik und Sprachsoziologie nicht vertraut ist. Ich tippe daher auf ein Alter der Angehörigen der „Behavioral Science Unit“ zwischen 45 und 60 Jahren.

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In eigener Sache: Soziolinguistik der Stimme

Posted on 14th September 2011 in Off Topic

Liebe Freunde der Sicherheit,

Stimmerkennung wird immer häufiger auch in Sicherheitssystemen eingesetzt. Mich interessieren im Moment aber weniger die forensischen, sondern die sozialen Aspekte von Stimmen. Wer Zeit und Lust hat, ein kleines Forschungsprojekt zu unterstützen, den möchte ich bitten, folgenden Online-Fragebogen auszufüllen:



http://www.scharloth.com/voice/

Das dauert ca. 20 Minuten und ist ein bisschen anstrengend. Allen, die mitmachen, daher ein herzliches Dankeschön

Zu forensischen Aspekten der Stimmanalyse schreibe ich auf diesem Blog ausführlicher zu einem späteren Zeitpunkt. Versprochen!


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Off Topic 2: Noch mehr Fakten zu SPIEGEL Online

Liebe Freunde der Sicherheit,

semantisch bestimmte Wort- und Phrasenklassen lassen sich natürlich nicht nur zur Aufdeckung subversiver Tätigkeiten benutzen, sondern auch für ganz unnütze Dinge, etwa zur Analyse von Online-Medien. Im vorletzten Posting habe ich mir die Ressortentwicklung bei SPIEGEL-Online angeschaut und herausgefunden, was wir ohnehin schon alle wussten: das von uns so geliebte Ressort „Panorama“ wurde in den letzten 10 Jahren langsam aber stetig ausgebaut, so dass es inzwischen sogar mehr Artikel umfasst als Politik-Inland oder Politik-Ausland.

Heute möchte ich euch ein paar Zeitreihen zeigen, die man getrost als Indikator für journalistische Qualität ansehen kann. Die Zeitreihen wurden mit vergleichsweise einfachen Mitteln berechnet: Der Angstindex (man könnte ihn auch Fnordbarometer) zeigt die Anzahl von Wörtern und Wendungen an, die auf einschüchternde Sachverhalte hinweisen (Terror, Seuchen, Umweltkatastophen, Islamisten, Wirtschaftskrisen etc.). Wortschatzkomplexität habe ich mit dem Maß Yule’s K operationalisiert. Der Manipulativitätsindex setzt sich zusammen aus der Anzahl aus Wörtern und Phrasen, die auf Vermutungen bzw. unsicheres Wissen hinweisen (auch Mutmaßungsindex), der Anzahl metasprachlich markierter Wendungen (z.B. sogenannte freie Wahlen) und einer Reihe von Emotionalitätsindikatoren. Der Skandalisierungsindex beruht auf einer Taxonomie, die Lemmata (vor allem Verben und Adjektive) mit starken deontischen Dimensionen erkennbar macht. Die Wort- und Phrasenlisten wurden mit Hilfe maschineller Lernverfahren ermittelt.

Betrachtet man die Entwicklung von SPON von 2000-2010 so fällt zunächst auf, dass die durchschnittliche Wortschatzkomplexität pro Artikel im Trend allmählich abgenommen hat:



Durchschnittliche Wortschatzkomplexität in SPIEGEL-Online

Durchschnittliche Wortschatzkomplexität je Artikel in SPIEGEL-Online



Dafür nehmen die Indikatoren für einen stärker mutmaßenden, d.h. weniger faktengesättigten, und skandalisierenderen journalistischen Stil nach und nach zu:


Skandalisierung- und Mutmaßungsindex für SPIEGEL-Online

Skandalisierung- und Mutmaßungsindex für SPIEGEL-Online



Der Manipulativitätsindex im Ressort Politik verharrt seit Mitte 2009 auf einem Niveau, den er zwischenzeitlich nur kurz nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center hatte:


Manipulativitätsindex für SPIEGEL-Online, Ressort Politik



Interessant ist, dass der Angstindex im Ressort Wirtschaft den politischen Angstindex, der seit 9/11 auf erhöhtem Niveau verharrt, zweitweise im Zuge der Subprime-Krise überholt hat.



Fnord-Index für SPIEGEL-Online, Ressorts Politik und Wirtschaft

Fnord-Index für SPIEGEL-Online, Ressorts Politik und Wirtschaft



Diese Einsicht scheint zwar zunächst trivial, ist aber doch bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass für den SPIEGEL die größte Gefahr nicht mehr von Terroristen, sondern von der Hochfinanz ausgeht.


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