DIE KLAU MICH SHOW – dOCUMENTA(13)

Posted on 25th Juni 2012 in Off Topic, Politik, Terrorismus

Liebe Freunde der Sicherheit,

ich war in den letzten Wochen leider sehr beschäftigt. Unter anderem damit, nach Kassel zur dOCUMENTA(13) zu reisen. Dort durfte ich als Gast an der KLAU MICH SHOW (Radicalism in society meets experiment on TV) teilnehmen, einem Projekt von Dora Garcia. Weitere Gäste waren Rainer Langhans (Kommune I usw.) und Jessica Miriam Zinn (Piratenpartei Berlin), Jan Mech spielte souverän den Talk- und Showmaster.

Es ging um Eigentum und Diebstahl, Hedonismus und Spaßguerilla, Körper und Vergeistigung, Politik und Utopie, 1968 und Piraten. (Über Letztere hatte ich ja schon einmal geblogt.) Das Video ist online:



DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13)

DIE KLAU MICH SHOW, dOCUMENTA(13), 22. Juni 2012, Screenshot



Der Titel der Show zitiert den Titel des Buches „Klau mich“ der Kommune I. Die Kommune I war eine „Lebensgemeinschaft junger Maoisten“, die 1967 bis 1969 durch medienwirksame Protestinszenierungen und einen ostentativ hedonistischen Lebensstil einen großen Einfluss auf die 68er-Bewegung hatte und viel Aufmerksamkeit provozierte. Eine ihrer Provokationen war ein Flugblatt, in dem sie anlässlich eines Kaufhausbrandes in Brüssel mit etlichen Toten fragte „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ Die Autorinnen und Autoren behaupteten, Anti-Vietnamkriegsaktivisten hätten das Feuer gelegt, um den „saturierten Bürgern“ zu vermitteln, wie sich das Leben in Vietnam anfühlt, um den Krieg vom anderen Ende der Welt in die westlichen Metropolen zu tragen. „Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim der Frühstückszeitung zu vergiessen“, heißt es im Flugblatt. „Ab heute geht sie in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidkabine an.“ Die Staatsanwaltschaft sah darin eine Anstiftung zur Brandstiftung und klagte Rainer Langhans und Fritz Teufel an. Es kam zu einem Prozess, den die beiden Kommunarden als Bühne für eine bis dahin nicht dagewesene Anti-Justiz-Show benutzten. Sie spielten virtuos auf der Klaviatur des Antiritualismus und brachten Richter, Staatsanwaltschaft und Zeugen mehrfach zur Verzweiflung. Den Prozessverlauf, die Einvernahmen und die Medienberichte rekonstruierten sie im Buch „Klau mich“.

In der Klau Mich Show am 22. Juni war Rainer Langhans zu Gast. Weil ich mich mit dem Prozess in meinem Buch „1968. Eine Kommunikationsgeschichte“ ausführlich beschäftigt habe und auch sonst viel zu viel über performative Praktiken als Medium des Protests geschrieben habe, wurde ich als Gast eingeladen. Weil Rainer Langhans keine Nostalgie-Show wollte, kam auch Jessica Miriam Zinn von der Piratenpartei Berlin als Gast.

Die Klau Mich Show hat ihre eigenen Rituale entwickelt: die Mitglieder des Theater Chaosium, die am Anfang über die Bühne auf die Plätze für das professionelle Publikum (Chor und Jury) gehen, die reißerische Ansage der Gäste, der kleine Dialog mit der Show-Stewardess Tabu oder die vom Theater Chaosium moderierten Übergänge, das bunte Finale. Beim Sehen von nur einer Folge erzeugen sie Irritationen, wie bei den Studierenden meines Semis, in Serie machen sie den Charme der Show aus. Anders als die Kommune I früher fügen sich in der Klau Mich Show die Gäste in die Rituale.

Ritualkritik und Antiritualismus waren nämlich wichtige Charakteristika der 68er-Bewegung. Durch Rituale nämlich aktualisieren Gemeinschaften ihre Ordnung und versichern sich ihrer Werte. Durch die performative Kraft der Rituale werden Identitäten konstruiert, durch sie erhalten sie den Anschein von Faktizität. Wer also die Gesellschaft und ihre Werte verändern will, der muss ihre Rituale kritisieren, verändern oder durch neue Rituale ersetzen.

Die 1960er Jahre waren die Zeit der Entdeckung des Performativen: in der Kunst wurde mit performativen Praktiken experimentiert, um dem Funktionieren von Zeichenprozessen nachzuspüren. Soziale Bewegungen nutzten Ritualstörungen und Antirituale, um unsichtbare gesellschaftliche Schranken bewusst zu machen und ihre Beseitigung im Hier und Jetzt vorwegzunehmen. So stilisierte Rudi Dutschke in der deutschen 68er-Bewegung die performative Regelverletzung zum Medium der Selbstaufklärung der Aktivisten und zum Schlüssel ihrer individuellen Veränderung. Aber auch die Wissenschaft theoretisierte nicht nur, sondern nutzte performative Praktien wie Krisenexperimente (Garfinkel), um grundlegende Organisationsprinzipien der menschlichen Interaktion aufzudecken. Auch das Nachspiele von Ritualen wurde in der performativen Ethnologie als Erkenntnisquelle benutzt.

Das erste Thema der Show war dann auch die Theatralität selbst und das vergemeinschaftende Potenzial von Ritualen. Showmaster-Darsteller und Moderator Jan Mech holte das Publikum auf die Bühne und ließ es wie Woof im Musical Hair „We are all one“ rufen. Diese Durchbrechung der vierten Wand der Guckkastenbühne war als ein Re-enactment der Vorgänge am Ende der Hair-Aufführungen in den späten 60ern und frühen 70er Jahren gedacht, wo die Zuschauer auf die Bühne kamen, um mitzutanzen.

Der Gegensatz von Zuschauer und Mitwirkendem, von Bühnenraum und Zuschauerraum, von realer Welt und Spiel wurde aber gleich wieder hergestellt, als die eingeladenen Gäste zu einer Ballade (sinnreich: Seeräuber, Brecht) auf die Bühne kamen. Rainer Langhans wurde zum Star gemacht, der erstmal ein Autogramm geben muss. Deshalb durfte er auch in der Mitte sitzen.

Dann ging es um die Nazivergangenheit und den Generationenkonflikt und um die Frage des Privateigentums, bei der sich Jessica Miriam Zinn im Namen der Piratenpartei wehrte, in einer Tradition mit den 68er gesehen zu werden. Implizit wurde dabei die Frage verhandelt, ob durch die 68er ein Wertewandel hin zu einer Auflösung des Eigentumsbegriffs eingesetzt hat, der die Piratenpartei erst ermöglichte; denn die Piratenpartei bezieht sich positiv auf die urheberrechts-/copyright-kritische Bewegung in Schweden, aus der heraus der BitTorrent-Tracker „The Pirate Bay“ und die schwedische „Piratpartiet“ entstanden sind.

Ob sich die Piratenpartei Deutschlands die 68er, speziell die Kommunebewegung, als Tradition aneignen will, ist letztlich eine politische Frage, denn die Aneignung von Traditionen sind Identitätsakte. Der Anspruch auf Transparenz und die Utopie einer tiefer gehenden Demokratie verbindet beide Bewegungen, wie ich an andere Stelle ausgeführt habe. Gleichzeitig würde sich die Piratenpartei aber wohl dem Verdacht ausgesetzt sehen, offen zu sein für Ideen wie die Abschaffung des Eigentums, die Aufgabe der Privatsphäre und einem Anspruch auf radikale Veränderung jedes Einzelnen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist das Narrativ für die Verbindung von digitalem Aktivismus und 68er-Bewegung längst vorhanden: Der Chaos Computer Club wurde am 12. September 1981 in den Redaktionsräumen der taz gegründet — am Tisch der Kommune I.

Aber zurück zur Klau Mich Show: Theatral wurde es wieder, als der Körper in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt wird. Rainer Langhans vertritt seine These von der Vergeistigung der Kommune. Leider kam ich nicht dazu zu sagen, dass ich die Kommune für sehr körperlich halte, nicht nur wegen ihres ostentativen Hedonismus sondern auch wegen der bewussten Inszenierung ihrer Körper als nicht-, ja antifaschistisch. Haben sich die Grenzen des Anstands seit den 60er Jahren nicht nur im Hinblick auf das Eigentum, sondern auch im Hinblick auf den Körper verschoben? Dieser Frage wollte der Showmaster näher kommen, inderm er eine Zuschauerin bat, sich so weit zu entblößen, wie es ihrer Meinung nach Scham und Anstand zuließen. Als Jessica Miriam Zinn den Moderator aufforderte, es der Zuschauerin gleich zu tun, entkleidete auch er sich. Der performative Effekt seiner partiellen Nacktheit war jedoch ein diskursiver Kontrollverlust, der erst nach Wiederanlegen der Hose überwunden wurde.

So lieferte die Show selbst einen Beleg für die (de)konstruktive Kraft von (Anti-)Ritualen, mithin dafür, dass das Durchbrechen von Ritualen das Potenzial hat, Ordnung ins Wanken zu bringen. Die Klau Mich Show changiert wunderbar zwischen Ironie und Ernst, zwischen Anstand und Zumutung, zwischen Gespräch und Performance, zwischen Anspruch und Unterhaltung. Sie ist aber nichts von alledem. Sie ist ein Muss für alle dOCUMENTA-Besucher, die realen wie die virtuellen.

Noch ein paar persönliche Anmerkungen: Den Studierenden der Dokkyo sei noch einmal gesagt, dass ich nicht der Moderator bin und dass das Musical „Hair“ nicht wegen mir ein Leitmotiv der Show war. Ich habe die Performance des Theater Chaosium am Anfang nicht verstanden, fand den Kalauer aber sehr lustig. Einmal habe ich in die Kamera gewinkt, um die Studierenden zu grüßen. Ich habe ziemlich viel auf dem Drehstuhl herumgewackelt. Und ja, ich weiß, das Taschentuch…


Vorher war ich an der TU Dresden, wo ich ab 1.10. eine Professur für Angewandte Linguistik antreten werden, zu einem Vortrag zum Thema „Autorenidentifizierung und Autorschaftsverschleierung. Maschinelle Methoden in der forensischen Linguistik und Möglichkeiten ihrer Überlistung“. Aus diesem Anlasse gibt es demnächst wieder mehr Posts zu technischen Fragen.


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Postprivacy und Kommune: Heilsversprechen mit Tendenz zum Totalen

Posted on 10th Dezember 2011 in Überwachung und Sicherheit

Wer einen Paradigmenwechsel erfolgreich herbeiführen will, der muss Traditionen für sich vereinnahmen. Das Neue, für das man eintritt, erscheint den Kritikern nämlich dann nicht mehr ganz so schlimm, wenn man darauf verweisen kann, dass es schon früher etwas Ähnliches gegeben hat, besonders dann, wenn die Tradition, auf die man sich beruft, positiv besetzt ist. Die deutsche Postprivacy-Bewegung stellt sich nun in die Tradition der Kommunebewegung der späten 1960er Jahr. Rainer Langhans sollte auf der 0. Spackeriade die Keynote halten, darf nun aber nicht.

Lebensstil-Politik

Dabei hätte das durchaus Charme gehabt: Die Mitglieder der Kommune I, allen voran Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann waren die Popstars der 68er-Bewegung. Sie kleideten sich bunt, pflegten einen ostentativen Hedonismus und ernteten mit ihren Spaßguerilla-Aktionen viel Aufmerksamkeit. Indem die linksintellektuellen Politaktivisten die Kommunarden als Politclowns marginalisierten, erwiesen sie sich als blind gegenüber der politischen Dimension und der gesellschaftlichen Sprengkraft dieses Lebensstils. Während Dutschke und andere SDS-Größen im Politikteil der Gazetten verhandelt wurden, belebte die Kommune I das Boulevard mit Homestories aus dem Kommunealltag und Geschichten über ihre Sexualität. Wie ihre Aktionen, so waren auch ihre Interviews wohl kalkulierte Ereignisinszenierungen im medientauglichen Format. Und das Boulevard dankte es ihnen mit Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die es der Kommune ermöglichte, ihren expressiven Lebensstil über die Zentren des Protests hinaus bekannt zu machen. Dieser Lebensstil war eine Schnittstelle zwischen politischem Protest und jugendlicher Popkultur und damit ein wichtiger Katalysator für die Entstehung eines gegenkulturellen Milieus, dessen Angehörige viele gesellschaftliche Innovationen initiiert haben.

Diese Lebensstilpolitik hat der Kommune I natürlich viel Kritik eingebracht von jenen, die glaubten, Politisieren sei ein ernstes Geschäft, in dem man andere Menschen mit Argumenten überzeugen müsse. Auch die Spackeria erntet derzeit viel Kritik für ihre postprivatistischen Ideen und stilisiert sich zugleich zu einer Avantgarde, die sich weniger über Theorien definiert, sondern über ihren Lebensstil. Die Gemeinsamkeiten gehen jedoch tiefer.

Kommune und Postprivacy: das Ende der Privatheit

Anschlussfähig für die Post-Privacy-Bewegung ist der Umgang der Kommunebewegung mit dem Privaten. Die Kommune I wurde nach Dieter Kunzelmann aus der Einsicht heraus gegründet, dass eine Organisation, die „die Gesellschaft in Richtung auf eine anti-autoritäre, egalitäre, anti-private Struktur ändern will, sich selbst anti-autoritär und anti-privat organisieren muß.“ (zitiert in Koplin 1968: 48). Von der Kommune I wird kolportiert, sie habe die Toilettentüren ausgehängt, damit ihre Mitglieder sich niemals der Gruppe entziehen könnten. Tatsächlich hat man wohl nur darauf bestanden, dass Zimmertüren offen bleiben sollten, obwohl auch hier Ausnahmen geduldet wurden. Die Linkeckkommune hatte sich darauf geeinigt, dass jeder das Recht habe, jederzeit jedes Zimmer zu betreten. Neben der Verhinderung von Vereinzelungen, sollte auch private Kommunikation nicht mehr möglich sein. Rainer Langhans hat mir erzählt, er hätte einen Lautsprecher ins Telefon eingebaut, damit die Mitbewohner immer das volle Gespräch mithören konnten, wenn jemand anrief. Während die Kommune I ihr Innenleben vor allem über die Presse nach außen trug, veröffentlichten andere Bücher: Hartmut Sanders und Ulrich Christians‘ „Subkultur Berlin“ enthielt lange Tonbandprotokolle von Gespräche der Linkeck-Kommune, Rolf-Ulrich Kaiser druckte 1970 in „Fabrikbewohner“ Alltagsgespräche aus der Kommune X (auch Kommune 99 / Horla-Kommune) nach und der 1969 erschienene Bericht über den „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ der Kommune 2 bestand vorwiegend aus Protokollen aus dem Alltagsleben der Kommunemitglieder.



Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2

Zeichnung aus dem Protokollbuch der Kommune 2



Eschatologische Dimensionen

Die Entäußerung des Privaten — das deutet der Titel des K2-Buches an — geschah nicht aus der puren Lust am Exhibitionismus. Er folgte einem eschatologischen Programm: Es ging um nichts weniger als um die Schaffung eines neuen Menschen, der frei sein würde von den Zwängen bürgerlicher Existenz: „Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Phantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in der revolutionierten Gesellschaft ist.“ (Kommune 2 1969: 70.) Auch hier zeigen sich Parallelen zur Post-privacy-Bewegung. Deren Utopie einer Ethik des Teilens und der Offenheit, die völlig neue Formen des Miteinanders hervorbringe, oder zur Unsterblichkeit durch Mindupload haben ebenfalls den Charakter einer Heilslehre. Heilbringendes Medium für die Postprivatisten ist die uneingeschränkte Kommunikation. Und auch das verbindet sie mit der Kommunebewegung.

Jeder muss alles sagen

Vergemeinschaftendes Herz der Kommunen der Frühzeit nämlich war das Gespräch. Nicht das zufällige Gespräch am Küchentisch, sondern das Gespräch mit rituellem Charakter: häufig eröffnet vom Schwellenritual des kreisenden Joint diskutierte man zu festen Zeiten mit stetig wiederkehrenden Sequenzmustern die Probleme des Zusammenlebens als Symptome für die mangelhafte Revolutionierung der Einzelnen.

In allen Kommunen bestand ein informeller Zwang zur Teilnahme an diesen Gesprächen. So war es der einzige verbindliche Grundsatz der Kommune 2, „über alle auftauchenden Probleme gemeinsam zu sprechen.“ (Kommune 2 1969: 46) Nicht nur musste jedes Kommunemitglied zeitweilig Gegenstand des Gesprächs werden, es war auch so, dass sich jedes Mitglied in das Gespräch einbringen musste. Die Ablehnung eines Gesprächsthemas, Passivität und bloßes Zuhören waren nicht gestattet. So forderte Hans-Joachim Hameister in einer Diskussion der Kommune I am 22.3.1967, deren Protokoll nur in einer lückenhaften polizeilichen Abschrift überliefert ist: „jeder muß seine individuelle Situation auf den allgemeinen Stand bringen, Schweiger müssen reden u. warten nicht mehr darauf, daß ihr Problem verhandelt wird […]. Diskussion heißt nicht mehr aufgesucht u. aufgefunden zu werden wie in der bürgerlichen Kommunikation“. Wer nicht mitmachte, flog raus: In der Kommune 2 weigerten sich Jörg und Lisbeth ihre Beziehungsprobleme vor dem Kollektiv auszubreiten — sie mussten die Kommune verlassen, denn sie hatten den „einzigen Kommune-Grundsatz angegriffen“ (Kommune 2 1969: 46).

Die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe

Konstitutiv für das Gemeinschaftsleben war zudem, dass alle Entscheidungen in den Kommunen nach ausführlicher Diskussion nach dem Konsensprinzip getroffen werden und verbindlich sein sollten. Dies konnte so weit gehen, dass — wie in der Kommune I geschehen — die Mitglieder nach eingehender Diskussion zu dem Ergebnis kamen, dass eine schwangere Kommunardin ihr Kind abtreiben lassen sollte. Die Mitglieder der Kommunen empfanden die Gespräche als „Psychoterrorsitzungen“ (Przytulla 2002: 206), bei denen der psychische Zusammenbruch durchaus erwünscht war und zum Ritual des Reihengesprächs gehörte. Das belegt sogar eine Bemerkung Fritz Teufels, die sich in den Protokollen der Kommune I findet: „Zusammenbrüche produzierten eine Spannung, die nicht mehr zu ertragen war u. die Zusammenbrüche waren keine selbsttätigen, sondern Pflichtübungen den Autoritäten gegenüber. Autorität gleich Gruppenautorität.“

Die Kommunen verlangten also nichts weniger als die Unterwerfung des Einzelnen unter die Autorität der Gruppe. Der zunächst rein formale Zwang zur Teilnahme am Gespräch entfaltete Geltungsansprüche, die tief in die Freiheit der Einzelnen eingriffen und ins Totale spielen konnten. Nicht individuelle Entfaltung sondern Disziplinierung im Sinne der Gruppe waren das Ergebnis.

Postprivacy und Kommune

Und hier liegt die Pointe der ganzen Geschichte: Auch die Anhänger der Post-privacy-Ideologie erheben die rein formalen Forderung, keiner möge der Veröffentlichung von Daten im Wege stehen, und verbinden damit die vage Hoffnung auf eine Potenzierung individueller und gesellschaftlicher Möglichkeiten. Die Konsequenz aber, das ist aus den Kommuneexperimenten zu lernen, ist nicht ein höheres Maß an Freiheit, sondern eine Ausweitung der Geltungsansprüche der Vielen auf jeden Einzelnen und damit eine Einschränkung des Möglichkeitsraums.

Im Artikel „Kommunarden über sich selbst“ in der konkret vom 7.10.1968 kritisiert ein Mitglied der Kommune 99 die postprivatistische Lebensweise: „Die K I hat in der Fabrik, wo sie jetzt wohnen, einen einzigen Raum, in dem sie alle zusammen leben. Ich stelle mir das fürchterlich vor. Wie willst du dich da zurückziehen? Ich halte es doch für sehr wichtig, daß man auch ein bißchen Privatleben hat. Man kann nicht so ausgerichtet sein, daß alles Individuelle verlorengeht. Im Gegenteil: Individuelle Eigenarten müssen gefördert werden.“


[Persönliche Nachbemerkung: Mit Rainer Langhans kann man reden und er kann sogar zuhören. Seine Ausladung finde ich daher bedauerlich.]



Literatur:

  • Kaiser, Rolf-Ulrich (1970): Fabrikbewohner: Protokoll einer Kommune und 23 Trips. Düsseldorf: Droste.
  • Kommune 2 (1969): Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin: Oberbaum Presse.
  • Mein, Wolf / Wegen, Lisa (1971): Die Pop-Kommune: Dokumentation über Theorie und Praxis einer neuen Form des Zusammenlebens. München: Heyne.
  • Peinemann, Steve B. (1975): Wohngemeinschaft. Problem oder Lösung?. Frankfurt am Main: Verlag Rieta Hau.
  • Przytulla, Dagmar (2002): „Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren“. In: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, hg. v. Ute Kätzel, Berlin: Rowohlt Berlin, S. 201–219.
  • Sander, Hartmut / Christians, Ulrich (1969): Subkultur Berlin. Darmstadt: März-Verlag.

Mein Buch zur Bedeutung der 68er-Bewegung für die Kulturggeschichte der BRD:


Scharloth, Joachim (2011): 1968. Eine Kommunikationsgeschichte. Paderborn: Fink.