Sprache konstruiert Wirklichkeit. Dies gilt auch für die Sprache, wie sie in der Politik verwendet wird, vielleicht sogar in besonderem Maße. Denn Politikerinnen und Politiker benutzen die wirklichkeitskonstruierende Kraft der Sprache bewusst für ihre politische Agenda. Ob man vom „Betreuungsgeld“ (Regierung) oder der „Herdprämie“ (Opposition), von der „Kopfpauschale“ (SPD, Grüne, Linke) oder dem „solidarischen Bürgergeld“ (CDU/CSU) spricht, jeweils wird der Gegenstand, über den man spricht, in anderer Weise konstruiert und bewertet. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass es nicht einmal mehr derselbe Gegenstand ist, den man von unterschiedlichen Perspektiven durch das Medium der Sprache erfasst, sondern dass durch die unterschiedlichen Bezeichnungen unterschiedliche Gegenstände konstruiert werden. Was Politiker sagen und wie sie es tun, ist also durchaus von Bedeutung für das Verständnis politischer Prozesse.
Auch bei unseren Leitmedien scheint sich diese Erkenntnis durchgesetzt zu haben. In allen Gazetten schreiben Journalistinnen und Journalisten darüber, was Menschen darüber sagen, was andere, mutmaßlich noch wichtigere, Menschen geäußert haben. War das schon immer so? Oder ist das eine Folge des Online-Journalismus mit seiner auf Aktualität getrimmten Kultur, in der jede Äußerung schon eine Meldung wert ist, ohne in größere Nachrichtenzusammenhänge eingebettet zu werden?
Um diese Frage zu beantworten, habe ich mir die Entwicklung der Frequenz von rund 240 Sprachhandlungs- und Kommunikationsverben in drei Textarchiven angeschaut: dem Printarchiv von Spiegel und ZEIT (1947 bis 2010) und dem Archiv von Spiegel Online (2000 bis 2010). Für jeden Artikel habe ich die Frequenz von Kommunikationsverben relativ zur Anzahl der Wörter berechnet, anschließend habe ich den Durchschnitt über alle Artikel eines Jahres gebildet.
Die folgende Abbildung zeigt, dass die Zunahme des Gebrauchs von Kommunikationsverben kein neues Phänomen ist. Schon seit den 1970er Jahren steigt ihr Gebrauch allmählich an. Parallel zu den Anfängen des Online-Journalismus in den 1990er Jahren verstärkt sich jedoch dieser Anstieg. Anders als vermutet, ist die Frequenz bei Spiegel Online auf den ersten Blick nicht dramatisch höher als bei den Print-Medien. (Lesehilfe: Eine relative Frequenz von 0.02 bedeutet, dass jedes 50. Wort ein Kommunikationsverb ist.)
Die Aggregierung der Daten aus allen Ressorts gibt jedoch nur einen recht groben Eindruck. Die ressortspezifische Verteilung von Kommunikationsverben, insbesondere in den Ressorts, die zum Kerngeschäft des Qualitätsjournalismus gehören, erlaubt eine differenziertere Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der relativen Frequenzen in den Ressorts Deutschland (Spiegel Print), Politik Deutschland (Spiegel Online) und Politik (ZEIT Print; die ZEIT differenziert in ihrer Ressortzuschreibung leider nicht zwischen Innen- und Außenpolitik, weshalb ihre Zahlen nur bedingt mit denen des Spiegel vergleichbar sind).
Es zeigt sich auch hier, dass die Zunahme des Schreibens über das, was andere in der politischen Arena gesagt oder geschrieben haben, kein neues Phänomen ist. Doch ist der Unterschied im Gebrauch von Kommunikationsverben zwischen Print- und Online-Medien hier sehr groß. Interessanterweise ist bei Spiegel Online kein Anstieg der Frequenz zu beobachten. Dies bestätigt sich auch beim Blick auf das Ressort Außenpolitik (für die ZEIT hier wieder die Werte aus dem Ressort Politik).
Auch hier verharren die Zahlen bei SPON auf hohem Niveau, die Printmedien nähern sich dem Online-Medium an. Am stärksten hat die relative Frequenz von Kommunikationsverben jedoch in einem anderen Ressort zugenommen: im Ressort Wirtschaft. Auch hier überlagern offenbar zunehmend Berichte über Gesagtes die Berichterstattung zu messbaren Zusammenhängen, bzw. wird die Präsentation von Fakten an deren Verkündigung gekoppelt.
Man müsste das genauer untersuchen, aber als vorläufiges Fazit lässt sich ziehen: Die Personalisierung von Informationen und die Wiedergabe von Aussagen und Meinungen ist eine immer stärkere werdende Tendenz, die durch die Logik der Online-Medien nicht verursacht, aber verstärkt wurde.
Natürlich sind auch Kommunikationsverben dem Wandel der Moden unterworfen. Im gedruckten Spiegel habe ich mal durchgerechnet, welche Kommunikationsverben für die jeweiligen Jahrzehnte typisch sind (alle signifikant, geordnet nach Frequenzfaktor):
2000er: telefonieren, nerven, mitbekommen, prognostizieren, nachfragen, sagen, mitverfolgen, wetten, lachen, bereuen, mitlesen, reden, nachdenken, kapieren, weinen, bewerten, beten, verklagen, streiten, kritisieren, meckern
1990er: petzen, telefonieren, nerven, kapieren, prognostizieren, mitverfolgen, heucheln, maulen, verfluchen, klagen, meckern, ahnen, drohen, beteuern, warnen, jammern, spekulieren, streiten, beschreiben, bereuen, hetzen, suggerieren
1980er: kritteln, mitverfolgen, denunzieren, anprangern, meinen, petzen, differenzieren, beklagen, bejahen, verhehlen, ermutigen, akzeptieren, beschreiben, nachdenken, bemitleiden, postulieren, bedauern, wiederholen, unterstellen, beteuern
1970er: kritteln, postulieren, bejahen, differenzieren, negieren, geloben, erhoffen, konstatieren, prophezeien, beurteilen, empfehlen, verwahren, verneinen, ermuntern, mitlesen, scheuen, voraussehen, monieren, widerlegen, schildern, vermuten, bezweifeln, denunzieren, diskutieren
1960er: gedenken, befehlen, bejahen, gestatten, bemitleiden, konstatieren, verwahren, verneinen, ermahnen, verhehlen, verbitten, bitten, verabscheuen, widerlegen, antworten, bedauern, empfehlen, geloben, bedenken, ermuntern, unterstellen, feststellen, verraten
1950er: gestatten, gedenken, feststellen, vorschlagen, verneinen, ablehnen, kommentieren, antworten, tippen, befehlen, schreiben, bitten, bedauern, bekennen, verabscheuen, verhehlen, beweisen, versichern, beleidigen, bejahen, nachweisen, verbitten
1940er: tippen, singen, betonen, schreiben, sprechen, verbieten, befehlen, bedauern, gratulieren, antworten, feststellen, nennen, gedenken, schreien, staunen, verklagen, lachen, verurteilen, verabscheuen, ablehnen, wetten, verzeihen, verwahren, kommentieren, bereuen, bekennen
Zuletzt noch ein Schmankerl: Weil alle immer auf das Panorama-Ressort von SPON eindreschen, zum Schluss noch ein Vergleich zwischen den Panorama-Ressorts von Spiegel Online und Spiegel Print („Panorama“ bis 1986, ab 1987 Ressort „Gesellschaft“).
So schlimm ist es also gar nicht mit dem Online-Journalismus. Dazu demnächst mehr auf diesem Blog.